Astrid Hammerthaler für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Ludger, in Gedanken
Man muss sich Zeit nehmen, um in Ruhe nachzudenken. So folgerte Ludger, nachdem er wieder einmal eine Verabredung abgesagt hatte. Er hatte schlichtweg keine Lust, hatte es dem Freund gegenüber aber anders ausgedrückt.
Viel eher war ihm nach einem Spaziergang durch die Stadt, bestenfalls durch ein Viertel, in dem er niemandem begegnen würde, den er kannte. Also machte er sich zunächst mit der Tram auf den Weg. Er trug sein Notizbuch bei sich, gewillt, die besten Eingebungen darin zu festzuhalten wie einen kleinen Schatz. Solche Schatzbücher hatte er reich gefüllt schon in großer Menge zu Hause herumstehen. Gelegentlich warf er einen Blick hinein, aber je älter sie waren, desto mehr hatte er das Gefühl, das habe ein anderer geschrieben. Konnte er daran seine geistige Entwicklung ablesen? Darüber wollte er nachdenken.
Seine Schwester hatte ihn einmal einen Grübler genannt. Und obwohl er sich ärgerte, hatte er doch den besorgten Ton in ihrer Stimme wahrgenommen.
Es war ja überall zu lesen, dass man alleinlebend eher krank wurde oder sogar früher zu sterben hatte. Alte Leute wurden deshalb in Kaffeekränzchen mit ihresgleichen verfrachtet, ohne zu bedenken, dass sie vielleicht nur das Betagtsein miteinander verband. Nicht aber die Lust auf ein krampfhaftes Miteinander.
Von dieser Phase seines Lebens war Ludger mit seinen zweiundvierzig Jahren noch weit entfernt. Jedoch war er froh, dass er sich zu alt wähnte, um noch Familie zu gründen, was hie und da von ihm erwartet worden war. Er sah nicht schlecht aus, er hatte Stil, und gelegentlich hatte er romantische Tendenzen. Doch sobald er spürte, dass eine Frau ihn zu sehr in Beschlag nehmen wollte, beendete er die Sache – ebenso schlagartig. Er benötigte seine freie Zeit zum Nachdenken.
Einmal verliebte er sich in eine Frau aus England. Das war ideal, denn so sahen sie sich selten. Wenn er bei ihr war, war er glücklich. Wenn er aus der Ferne an sie dachte, auch. Unglücklicherweise war sie es, die die Liaison beendete. Sie brauche wieder mehr Zeit für sich selbst. Das hatte ihn kurz empört. Dann hatte er laut aufgelacht. Sie wäre die perfekte Frau für ihn gewesen.
Jetzt war er wieder zu Hause und nahm müde auf der seltsamen Couch Platz, die ein Kollege vorbeigebracht hatte. Er hatte sie nur behalten, weil er Mitleid mit dem Möbelstück hatte. Es hatte durch den Familienzuwachs des Kollegen einem Kinderbettchen weichen müssen.
Als er nun an sich hinabblickte, bemerkte er, dass die Farben seines karierten Hemds nicht mit denen des Sofas harmonierten. Was sollte er nun austauschen?
Er war froh, dass er allein lebte und niemand diesen Fauxpas sehen konnte. Mit jemanden zusammenzuleben– das wäre nichts für ihn. Das wäre dann ja nicht mehr er.
Aufrecht setzte er sich hin, denn er wollte der Müdigkeit nicht nachgeben. Er wollte sich Gedanken machen. Ja, man musste sie machen. Sie kamen nicht von allein.
Er legte den Arm so auf die Lehne, dass die Linien zwischen den Karos seines Hemds parallel zu der oberen Naht der Couch verliefen. So entstand eine bessere Ordnung.
Ludger ließ sich schnell ablenken, das war eine seiner Schwächen. Vor allem, wenn er einer oder mehreren Personen gegenübersaß. Meist irritierte ihn eine Kleinigkeit und er begann gedanklich daran herumzufeilen. Obwohl er vom Friseurhandwerk nichts verstand, erhielten diese Menschen dann eine neue Frisur oder waren besser gekämmt beim Abschied. Stark geschminkte Personen demontierte er im Geiste mit einem feuchten Waschlappen, weil er ihr echtes Gesicht sehen wollte. Die Britin war nie geschminkt gewesen.
Tatsächlich litt Ludger an dieser Tendenz zum Abschweifen. Dadurch gingen mitunter wertvolle Minuten verloren. Zugleich verschönerte er sich die Welt damit und machte sie zu einer, in der er leben wollte. Eine, die passte.
Einmal musste er ein Firmenseminar zur Gesundheitsförderung über sich ergehen lassen. Interessant fand er, dass die Referentin viel Wert auf die Wahrnehmung der Gefühle und der Körperreaktionen legte. Das war ihm eine neue Variante, das Leben zu leben. Würde aber viel Zeit kosten. Er indes benötigte seine Zeit, um nachzudenken und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Er wollte nicht so herumlaufen, wie er es mitunter mit seinen Mitmenschen erlebte. Die einfach übernahmen, was ihnen eingetrichtert wurde. Kopflos, wie er oftmals bemerkte. Aber vielleicht waren sie ja mehr mit ihren Körpern beschäftigt.
Die Moderatorin hatte behauptet: Ihr werdet erst richtig zugegen sein und das auch so empfinden, wenn Ihr euch ganz wahrnehmt. Wenn Ihr in eurem Körper lebt. Wenn eure Seele Raum erhält.
Das hatte ihm zu denken gegeben. War das keine Selbstverständlichkeit?
Er musste zugeben, dass er seinen Körper nur wahrnahm, wenn dieser ihm Schmerzen bereitete. Half der Körper durch diesen Alarm, dass er, Ludger, als Mensch überhaupt existierte? Das waren unangenehme Gedanken. Er legte seine Beine auf das Sofapolster und schloss nun doch die Augen.
Astrid Hammerthaler, geb. in Wasserburg am Inn, lebt in München. Schreibt, fotografiert und ist als Sozialpädagogin tätig.
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