Andreas Munter für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Die sieben Stufen der Verhungerung
Kennen Sie das? Man trifft sich zu Abendessen mit Freunden oder Familie. Es sind diese Treffen, bei denen man meist schon Tage davor beginnt, sich vorzubereiten, um dann diesen einen besagten Tag richtig zu zelebrieren, ihm zum Tag der Tage zu krönen, ihn schlichtweg in die Geschichte des puren Genusses eingehen zu lassen. Werde ich diese Es(s)kapade der Selbstüberschätzung morgen bereuen? Mit Sicherheit. Wird das Risiko eines Herzinfarktes in noch nie da gewesene Höhen schnellen? Ja klar! Werde ich am Ende meiner Mission in der Lage sein, diese Kathedrale der grotesken Fressekstase, selbstständig wieder zu verlassen? I dout it! Nicht umsonst sagte einst Anthony Bourdain: “Your Body is not a temple, it´s an amusement park! Enjoy the ride! “ Und wer würde dem widersprechen, aber ich schweife ab …
Endlich! Man betritt das Restaurant und beginnt so gleich das harte Training des Verzichts infrage zu stellen. Schnell merkt man, dass dieses Gefühl im Magen nicht einfach nur Hunger ist, sondern ein Vorbote darauf, dass die Zeit drängt, möglichst bald etwas zwischen die Kiemen zu bekommen da sonst vermutlich der komplette Körper in sich zusammenfallen wird. Der Weg zum reservierten Tisch wird zur Langstreckenwanderung, die sich mit jedem Schritt erneut, um einen Kilometer auszudehnen scheint. Endlich am Tisch angekommen wird sofort der selbige nach etwas das einer Speisekarte ähnelt abgesucht und wehe dem der es wagen sollte, dieses Objekt der Begierde vor einem in die Hand zu nehmen. Hält man sie schließlich in den Händen wird sie im Bruchteil einer Sekunde regelrecht gescannt und man ist selbst von sich überrascht, dass man dieses Heiligtum der Kulinarik auswendig, inklusive der Allergene wiedergeben kann und man Merk nicht, dass eine Tragödie die der „göttlichen Komödie“ gleicht bereits ihren Lauf genommen hat. Das Schicksal dieses kleinen hungrigen Individuums, welches man als sich selbst kennt, liegt nicht mehr in dessen Händen, es ist gefangen in den sieben Stufen der Verhungerung.
Stufe 1, die Bestellung: Alle am Tisch anwesenden Personen können am Gesichtsausdruck ablesen, dass es fatale Auswirkungen auf deren Gesundheit hätte, die Frechheit zu besitzen und eine Bestellung vor einem selbst abzugeben. Man strahlt eine Unberechenbarkeit aus, die sogar Kim Jong-un vor Neid erblassen lassen würde.
Stufe 2, Hoffnung: Dies ist eine sehr variable Stufe, die nach dem Bestellen auch immer wieder zwischen den anderen Stufen zum Vorschein kommen kann. Erkennbar ist sie durch den hoffnungsvollen Blick, der immer dann aufblitzt, wenn sich das Servicepersonal, mit mehreren Tellern bestückt, von der Küche aus den Speisesaal betritt. Noch deutlicher ist Stufe 2 zu erkennen, wenn sich die Fachkraft auch in Richtung des eigenen Tisches bewegt und man glaubt seine Speise in den Händen des Kellners oder der Kellnerin zu erkennen.
Stufe 3, zerplatzte Hoffnung: Sie liefert sich ein Wechselspiel mit Stufe 2 und lässt den hoffnungsvollen Blick, der allem, um einen herum zu erkennen gibt: „Yeahy!“ In einem Wimpernschlag zu einem enttäuschten, „ooooh!“, sagenden Blick verkümmern. Auch sehr gut wahrnehmbar ist Stufe 3 dann, wenn Speisen an den Tisch serviert werden, die eigene aber nicht dabei ist. In so einem Ausnahmefall kann es auch vorkommen, dass dem enttäuschten Blick ein Seufzer beigelegt wird, um der Enttäuschung noch mehr Ausdruck zu verleihen. Ein Knackpunkt, der ebenfalls in Stufe 3 aufkommt, man könnte es als Einleitung von Stufe 4 erklären könnte, ist die Frage des Personals, „was hatten sie noch gleich?“, bzw. die Phrase „Oh, das tut mir leid, das dürfte wohl irgendwie untergegangen sein … ich werde mich sofort darum kümmern.“, die den ärmlichen hoffnungslosen, in einen vor Zorn blitzenden und bedrohlichen Blick verwandeln, der dem Restaurantpersonal ohne Worte zu verstehen gibt, „Ich werde dich töten und deinen Nächsten werde ich schwer verwunden!“.
Stufe 4, Verwünschung des Personals: Stufe 4 spitzt sich mit jedem Erscheinen der, für den Tisch verantwortlichen, Person zu ohne, dass diese die, bereits ersehnte, Speise serviert. Bei jedem Blickkontakt mit der Servicekraft, wünscht man dieser mehr und mehr sämtliche biblischen Seuchen an den Hals und fängt gedanklich nach und nach an das ganze Personal zu ermorden. Erst den Service, dann die Küche und schließlich das ganze verdammte Restaurant. Dabei kommt es nicht selten vor das im Gedanken ganze Stammbäume, nein, Dynastien ausgelöscht werden. Jeder im Restaurant Arbeitende wird zum Feind, ein Verräter, wenn man so will der Superbösewicht, der Endgegner, der alles bisher Gekannte in den Schatten stellt. Ein Wesen, das aus einer Liebesnacht zwischen Thanos und Darth Vader entsprungen ist, das Sauron und Senator Pelpatin als Onkel und den Jocker als Taufpaten hat… Kurz gesagt das Restaurantpersonal.
Und nur einer vermag diese Bedrohung der Welt und des Friedens, die noch dazu, den hart Arbeitenden, sich jahrelang darauf vorbereitenden Menschen des einfachen Lebens das Essen verwehrt aufzuhalten. Ein Jüngling der einzig und allein würdig ist sich diesen Mächten der Finsternis zu stellen, welcher eine längst vergessene Kraft in sich trägt, mit der er in der Lage ist, jenes Böse zu besiegen, welches gekommen ist, um die Menschheit zu knechten, sie zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden. Eine Macht dies ihm erlaubt, ohne Worte, Gerechtigkeit für alle diejenigen, die einst und zukünftig der Pein des Hungerns in Restaurants ausgeliefert sind, walten zu lassen. Die Rede ist von…
Stufe 5, passive Aggressivität: Die Superpower des modernen Menschen, die es ermöglicht, ohne oder mit wenig Wörtern ganze Bände zu sprechen. Doch birgt sie, verwoben mit Stufe 5 der Verhungerung, auch eine Schwachstelle. Denn in dieser Kombination lässt sie die Grenzen zwischen gut und Böse verschwimmen und man ist nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, wer Freund und wer Feind ist. Einerseits wird dem Scheusal, das sich selbst Restaurantfachkraft schimpft, das mit einem ängstlich zaghaften, „… Kommt sofort …“ versucht die Situation zu besänftigen, von dem er/sie und man selbst genau weiß, dass es sich um eine schamlose Lüge handelt, mit einem verächtlichen Blick bestraft, der dem neu gewonnen Erzfeind aber eigentlich folgendes wissen lässt: „WAS FÄLLT, DIR DUMMEN SAU EIGENTLICH EIN, MIR SO EINE UNVERSCHÄMTE LÜGE AUFZUTISCHEN! ICH MUSS HIER ZUSEHEN WIE ALL DIESE IDIOTEN UM MICH HERUM AM FRESSEN SIND UND SICH AN IHREN BIS ÜBER DEN RAND GEFÜLLTEN TELLERN LARBEN, WÄHREND DU IDIOT MIR ERZÄHLEN WILLST, DASS MEIN FRASS GLEICH KOMMT! VERSCHWINDE UND KOMM ERST WIEDER WENN DU MEIN ESSEN IN DEN HÄNDEN HÄLTST ODER ICH HAU DIR EINE IN DIE FRESSE, DU DRECKSAU! DAS IST EINE FRECHHEIT!“ (Sidenote, in uns allen steckt ein bisschen Klaus Kinski, wenn wir hungrig sind)
Aber auch die anderen Gäste werden Opfer der Stufe5, wenn auch in abgeschwächter Form. Neben dem ständigen Blick auf die Uhr und lautstarken seufzen kann es sein, dass Mitspeisende, die einem, um das Leid zu lindern, etwas von ihrem Essen anbieten ebenso mit einem Blick gefolgt von einem, „…mh nein is nicht so meins…“, zum Schweigen gebracht werden, obwohl der innere Dialog folgendes dazu meint: „Natürlich möchte ich etwas abhaben, schließlich bin ich am Verhungern aber mein Stolz verbietet es mir, ja, zu sagen, weil sonst alle anderen denken, was ich nicht für ein Baby bin und nicht wie ein Erwachsener auf mein Essen warten kann, auf das ich nebenbei bemerkt nun schon ganze 20 Minuten warte und ja ich habe die Zeit gestoppt, ohne zu meckern.“
Nach einiger Zeit flacht Stufe 5 immer mehr ab und man findet sich in der nächsten Stufe wieder.
Stufe 6, Akzeptanz: Mit dem Abnehmen von Stufe 5 beginnt man sich mehr und mehr damit abzufinden und akzeptiert die Tatsache, dass man den unvermeidlichen Hungertod sterben wird und die noch übrige Restenergie aus Stufe 5 wird in ein heroisches Hochgefühl umgewandelt und man beginnt sich als Märtyrer der gastronomischen Ungerechtigkeit zu betiteln. „Ich hungere damit andere in Restaurants zu essen haben, nicht nur heute auch in Zukunft! Auch wenn dies meinen Tod bedeutet! Errichtet ein Denkmal mir zu Ehren und erzählt euren Kindern und Enkelkindern von mir!“ Nicht selten sieht man sich auf einer Ebene mit Mahatma Gandhi und Alice Paul.
Stufe 7, „Na super…“: Noch während man in der Selbstverherrlichung aus Stufe 6 schwelgt, passiert etwas völlig Unvorhersehbares. Praktisch aus dem Nichts taucht ein längst vergessenes Wesen, aus den Dunstschwaden, der Küche auf. In den Händen Teller balancierend bleibt diese Gestalt, die man glaubt, schon einmal vor langer, langer Zeit gesehen zu haben, vor einem stehen und stellt das langersehnte bis über den Rand gefüllte Teller vor einem ab. Letzten Endes hat doch das gute gesiegt und das große Fress… Speisen kann endlich beginnen. Man ist bereit, nimmt das Besteck in die Hand, streicht sich noch einmal mit der Zunge über die Lippen nur um festzustellen: „Na super … jetzt hab ich keinen Hunger mehr …“
Mein Name ist Andreas Munter, bin 39 und lebe in Spittal an der Drau. Ich ich habe zwei Söhne und arbeite als Sozialarbeiter in einen Krisenintervetionszentrum für Kinder und Jugendliche. Das Schreiben betreibe ich hauptsächlich in meiner Freizeit und da eher Kurzgeschichten. Neben dem Schreiben zählt zu meinen Leidenschaften Sakteboardfahren, Zeichnen und Malen sowie Reisen
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