Fliegende Fische

Nora Hamed für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“




Fliegende Fische

Ich stand in der Küche und erhitzte die Milch für den morgendlichen Kakao. Meine beiden Kinder durften vor dem Kindergarten eine Folge Peppa Pig schauen. Fernsehen am frühen Morgen war bestimmt nicht förderlich für die kindliche Hirnentwicklung, aber zwei streitende Kinder vor sieben Uhr, die sich weigerten die Pyjamas auszuziehen, waren es für mich genauso wenig. Ich hörte wie Peppa ihren Papa als dumm bezeichnete und musste grinsen.

„Mama! Wo bleiben unsere Kakaos?“

Ich verdrehte die Augen und stampfte ins Wohnzimmer. Provokant stellte ich mich direkt vor den Fernseher und versperrte den Kindern die Sicht.

„Steht auf meiner Stirn irgendwo Buffet eröffnet?“

Meine Tochter runzelte die Stirn und starrte mich fragend an, während mein Sohn seinen Hals verrenkte, um an mir vorbei zu schauen.

„Mama, ich sehe nichts! Geh endlich auf die Seite!“, schrie er.

„Was heißt Buffet?“

Ich machte einen Schritt zur Seite und rollte die Augen ein weiteres Mal.

„Es heißt, dass die Kakaos auf dem Weg sind. Darf ich sonst noch etwas bringen Mi Lady?“

„Nein, danke, das wäre dann alles Mi Mama!“ Ich machte einen Knicks. Ja, machte ich wirklich, weil Humor oft der einzige Umgang war, um nicht durchzudrehen.

Ich atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf über mein eigenes Verhalten. Noch keine ganze Stunde wach und schon ließ ich bereits meinen Frust an den Kindern aus. Sie wollten eine Tasse Kakao, kein Dreigänge-Menü. Was stresste mich daran denn so sehr? Mit zwei Gläsern warmen Kakao und einem gestellten Lächeln im Gesicht, kehrte ich zurück ins Wohnzimmer.

„Hier bitte. Vorsichtig, dass ihr nichts verschüttet.“

Beide bedankten sich, schlürften genüssliche ihren Kakao und das ohne Maßband, um abzumessen, ob beide Gläser auch wirklich gleich voll waren. Dieser Morgen hätte so gut starten können, wäre da nicht diese üble Laune, die sich wie ein Schatten, um mein Gemüt legte.

Erst vergangene Woche hatte ich versucht Jonas den Begriff Mental Load zu erklären.

„Also es sind zu viele Aufgaben, an die du denken musst? Verstehe ich das richtig?“

„Ja, sozusagen.“

„Dann mach doch eine Excel Liste mit all den Aufgaben und gewähre mir Zugriff auf das Dokument. So behalten wir den Überblick und was ich dir abnehmen kann, nehme ich dir ab. Schau, warte ich zeige es dir.“

Schnaufend starrte ich an die Decke. Wie kann ein Mensch so sehr in Excel Listen vernarrt sein? Wäre es nicht zu umständlich, hätte er wahrscheinlich Tabelle über seine täglichen Trinkmengen in Relation zu seinen Klogängen, geführt. Euphorisch setzte sich Jonas neben mich und öffnete seinen Laptop. Ich blickte zwar auf den Bildschirm, aber hörte ihm gar nicht mehr zu. Er nannte das Excel Dokument Daily Duties.

„Jonas, so einfach ist das nicht.“

„Wieso denn nicht? Du sagst, es ist dir zu viel und die Verpflichtungen werden immer mehr. Das ist doch die perfekte Möglichkeit, damit ich ebenso den Überblick bewahre und dir vielleicht sogar einiges abnehmen kann.“

Er bemühte sich. Das konnte ich sehen, und doch half es mir nicht.

„Ich weiß, es klingt ja auch sinnvoll. Aber es ist mehr, als nur eine Liste. Es ist alles was ich mir merken, wissen und tun muss, und das jeden Tag. Während ich eine Aufgabe erledige, bin ich gedanklich bereits bei der nächsten. Mütter arbeiten präventiv. Wir lösen Probleme, bevor sie überhaupt passieren. Wie soll man darüber denn Liste führen.“

Das Denken als Mutter wird zur neuen Identität. Der Raum für Selbstreflexion wird immer kleiner, weil man plant, organisiert und schlichtweg funktionieren muss. Die eigenen Bedürfnisse und Interessen werden vernachlässigt und plötzlich erhält Platons Zitat eine neue Bedeutung: „Ich denke, also bin ich…Mutter, nicht mehr und nicht weniger.“

Das, worauf wir unseren gesamten Fokus richten, wird zu einer zentralen Selbstverständlichkeit. Jahrhunderte lang wurde uns Frauen erzählt, wie besäßen so etwas wie spezielle Instinkte. Das Muttersein sei angeboren und unser Denken und Fühlen mache uns zu den besseren Bindungspersonen für unsere Kinder. Unsere graue Hirnsubstanz hat diese Glaubenssätze in die weiße Hirnsubstanz verfestigt, sodass unser Denken bestimmt wer und wie wir sind und vor allem, wie wir handeln. Ich, für meinen Teil, denke immer noch, dass keine Person, besser für meine Kinder sorgen könnte, als ich. Und dieses Denken macht mich zu dem was ich bin: eine überreizte, oft überforderte Mutter, die sich viel zu oft selbst vergessen hat und bis heute Schwierigkeiten hat, loszulassen.

Schuld. Scham. Überforderung.

Wir befinden uns im Rechtfertigungstunnel seit der Geburt des Kindes: Fragen über das Stillen – warum wir nicht gestillt haben, warum wir zu lange gestillt haben, wo wir stillen möchten und wo nicht, ohne dabei von Männern sexualisiert zu werden, selbst wenn wir unser Kind mit einem Stilltuch stillen, wie es die Natur vorgesehen hat.

Es scheint, als ob diese Männer neidisch sind, weil ihre Nippel ohne jeden Zweck existieren und lediglich Überreste ihrer embryonalen Entwicklung sind. Jedes Mal werden sie daran erinnert, was aus ihnen hätte werden können. Sogar dabei zeigt sich die Fragilität der Männlichkeit. Doch zurück zum Rechtfertigen: Das Stillen ist nur ein kleiner Punkt auf der langen Liste.

Verwendest du normale Plastikwindeln, die günstigen vom DM oder die Original-Pampers? Und selbst da ist der Plastikanteil oft hoch! Bist du vielleicht ein super Öko, der Stoffwindeln nutzt? Dann applaudieren die veganen Mamas, während andere dich belächeln und sich insgeheim fragen: „Wie viel Zeit muss die bitte haben?“

Bis jetzt ging es nur um die Milch, die die Kinder trinken, und um die Frage, was du zur Entsorgung von Windeln verwendest. Dann kommen Beikost, Brei oder Baby-led Weaning ins Spiel. Themen wie Medienkonsum, Töpfchentraining, Kleidung (Fair Fashion versus Fast Fashion), und Spielzeuge: aus Plastik, aus Holz, laute oder unbedenkliche.

Wir diskutieren auch über Babytragen, ergonomische Lösungen, und das Thema Schnuller – bis wann ist er sinnvoll? Milchpulver wird fast wie Koks behandelt, und über die Sprachentwicklung – wann spricht das Kind, wann kann es sich drehen, krabbeln, laufen? In ganzen Sätzen sprechen, komplexe Satzstrukturen verwenden, frech sein … Warum müssen sie überhaupt reden lernen und uns die Ohren abkauen?

Ich fühlte mich wie ein Fisch im Aquarium. Oft klebte ich an der Scheibe und dachte, dass alles, was sich außerhalb dieser vier Wände befindet, besser, freier und erfüllender ist. Doch es war nicht das Becken, das mich so stimmte, sondern meine Perspektive.

Wenn Menschen zu mir, als Mutter von zwei Kindern, sagen, ich könne alles sein, fühle ich mich wie ein fliegender Fisch, der verzweifelt versucht, Teil von zwei unterschiedlichen Welten zu sein.

Wir empfinden Schuld, wenn wir zu lange mit unseren Kindern zu Hause bleiben, und Schuld, wenn wir sie zu früh in die Fremdbetreuung geben. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir uns finanziell von unserem Partner oder Kindesvater abhängig machen – als ob dieses kleine Wesen nicht bereits eine lebenslange Verbindung zu uns geschaffen hätte.

Unser Kind ist in uns gewachsen, hat begonnen zu fühlen, zu sehen, zu hören und zu denken, lange bevor es unter stundenlangen Schmerzen per Kaiserschnitt oder auf natürlichem Weg zur Welt kam. Ein Vorgeschmack auf das Leben: „Manchmal passt es halt nicht, aber man muss trotzdem durch.“ Was ist daran schlimm, dass er seinen Teil dazu beiträgt und ein oder mehrere Jahre die Finanzierung für Strom und Wohnen übernimmt? Dein Kind hat 10 Monate mietfrei in mir gewohnt. Es hat monatelang eine Symbiose mit mir gebildet und mich „ausgesaugt“, kostenfrei. Und trotzdem fühlen wir Frauen und Mütter uns schuldig und schämen uns dafür, dass wir nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, fürs Familieneinkommen in der ersten Zeit aufzukommen?

Wir benötigen nicht nur unser eigenes Denken, um zu sein. Es ist nicht ausschließlich ein innerer Prozess. Auch unser Umfeld muss uns den Raum geben und Platz schaffen, um darüber nachzudenken, wer wir noch sein wollen. 




Nora Hamed, 1991 in Wien geboren, ist die Tochter eines Ägypters und einer Österreicherin. Als Logopädin und Mutter von zwei Kindern bringt sie ihre vielseitige Perspektive in ihre literarischen Werke ein, in denen sie Themen wie Mutterschaft und kulturelle Identität behandelt. Aufgewachsen in einer multikulturellen Umgebung, fließen ihre Erfahrungen aus zwei verschiedenen Kulturen in ihren Schreibprozess ein.
Nora Hamed hat bereits einige Veröffentlichungen in Literatur- und Verlagszeitschriften vorzuweisen. Mit ihrem Schreiben strebt sie an, Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu schlagen und das Bewusstsein für gesellschaftliche Themen zu schärfen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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