100 Milliarden Nervenzellen

Kristin Jankowski für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“




100 Milliarden Nervenzellen

Ich schaue auf den Spielplatz hinunter. Irgendwie stinkt es immer noch in der Wohnung. Ich lehne mich ziemlich weit aus dem Fenster und beobachte die leeren Schaukeln, die sich im kalten Wind leicht hin- und herbewegen. Die Schwere in meinem Magen lässt mich einfach nicht los. Die Leere auf dem Spielplatz ist erdrückend. Es kommt kein Kind zum Spielen her. Es stinkt, denke ich. Ich drehe mich um, entscheide mich, das Fenster noch einige Minuten offen zu lassen, und setze mich auf die neue Sitzgarnitur. Ich lasse den Kopf in meine Hände fallen. Nun sitze ich hier. „Noch mal richtig Glück gehabt“, höre ich meine ehemalige Nachbarin sagen. Ja, richtig Glück gehabt. Trotz der neuen Wandfarbe stinkt es immer noch nach altem Muff. Es stinkt auch im Fahrstuhl, er ist vollgeschmiert und in den Ecken liegen Dosen und Zigarettenkippen.

Ich warte immer noch auf unser Namensschild unten am Eingang. Eigentlich ist es auch egal, denke ich. Die Hälfte der Namensschilder hängen sowieso halb abgebrochen an der Wand. Ich werde einfach selbst unseren Nachnamen unten ankleben. Scheiße, es stinkt. „Sie sind so süß“, sagte die ehemalige Mieterin zu mir. „Ich will, dass sie diese Wohnung bekommen. Hier wohnen zwar fast nur Ausländer, aber die sind eigentlich alle ganz nett. Einige von denen sind sogar hilfsbereit“, bemerkte sie und wunderte sich über ihre Worte. „Hier brauchen sie und ihre Kinder keine Angst zu haben,“ fügte sie hinzu. Es stinkt hier, dachte ich nur.

Wenn sie jetzt noch weiter spricht, dann muss ich anfangen, die Luft anzuhalten, dachte ich. Die alte Dame führte mich durch ihr Wohnzimmer und zeigte mir alte Familienfotos. „Wir leben schon seit 40 Jahren in dieser Wohnung. Wir haben sie auch zweimal renovieren lassen,“ erzählte sie stolz weiter. Ich konnte kaum mehr atmen. Es waren die braunen Bohnen in der Küche. Vielleicht war es auch der alte rote Teppich in der Küche. „Meine Schwester ist ziemlich dickköpfig“, sprach sie weiter. Ich nahm meinen letzten tiefen Atemzug. „Ich wollte auch mal nach Australien auswandern“, erinnerte sie sich. Mein Atem wurde immer flacher. Es mussten die Bohnen gewesen sein.  „Ich sage der Hausverwaltung Bescheid“, sprach die alte Dame. Ich bewegte mich bereits Richtung Ausgang. „Heutzutage ist es schwierig, nach Australien auszuwandern“, bemerkte sie weiter. Langsam wurde mir schwindelig. Ich muss einen tiefen Atemzug nehmen, dachte ich. Aber es ging nicht. „Die Hausverwaltung wird sie dann anrufen“, wusste sie und öffnete mir endlich die Tür in die Freiheit. Ich bedankte mich und atmete endlich wieder richtig ein, bevor ich in den Fahrstuhl stieg. 

Ziemlich scheiße alles gelaufen. Mein Kopf hängt schwer in meinen Händen. Und meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich hätte einfach nein sagen können. Ich hätte zu allem einfach nein sagen können. Die Wanduhr tickt langsam vor sich hin. Bald ist Schulschluss. Meine jüngste Tochter wird mit ihrem schweren Schulranzen durch die Straßen zu ihrem Hort laufen müssen. Jetzt fange ich schon wieder an, mich zu ärgern. Diese Verbesserung von der Deutscharbeit, die hatte sich die Lehrerin von meiner anderen Tochter noch nicht einmal angeschaut.  Nomen werden groß geschrieben, das kann man sich merken, in dem man der, die oder das davor setzen kann. Ist auch egal, ist alles egal. So eine scheiße. Beim letzten Elternsprechtag habe ich mir den Staub in der Schule mal ganz genau angesehen. Kann da niemand einfach mal eine Flasche Chlor auskippen? Der Staub bildete schon eine richtige dicke Schicht in den Ecken und an den Treppen. An den Fensterbänken konnte ich mit den Fingern eine lange Straße lang ziehen und den Staub genüsslich in die Luft pusten. Ich stolperte fast über eine Jacke, die ein Kind in den Flur geschmissen hatte. Ich bückte mich und stopfte sie zwischen die Geländestangen. 

Ordentlich wird in der Mitte auch nicht mit D geschrieben, da kommt ein T hin, denke ich, als ich das Fenster in der Wohnung schließe. Warum werden die Hausaufgabenhefte eigentlich nicht mehr eingesammelt? Ich erinnere mich noch daran, wie unser Lehrer die Hefte ordentlich – mit T in der Mitte – auf seinen Tisch in den Klassenraum legte. Wir mussten damals alles mit dem Lineal durchstreichen, wenn wir einen Fehler erkannt hatten. Da wurde nicht einfach alles so hingeschmiert und wild durchgestrichen und herumgekritzelt. Kinkerlitzchen. Kennt jemand dieses Wort eigentlich noch? 

Ich stehe auf und suche das Raumspray. Vielleicht sollte ich noch mal die Fenster aufmachen. Nehme ich Vanille oder Lavendel? Das kann doch nicht gesund sein. Es stinkt in der Wohnung. Egal, ich entscheide mich für Lavendel. Es ist schon grau genug draußen, die lila Flasche bringt ein bisschen Farbe in das Trübsal. Siehe auch Melancholie, denke ich. Ich sprühe zuerst durch das Wohnzimmer, dann gehe ich in die Kinderzimmer. Ich mache auch noch mal die Fenster auf. Vielleicht macht es mehr Sinn, wenn ich die Fenster wieder schließe, so kann der Lavendel Geruch in die Bettwäsche einziehen. Ist doch auch quatsch, denke ich und entscheide mich dafür, die Fenster offen zu lassen. 

Ist da jetzt eigentlich mal jemand auf dem Spielplatz? 

Es hätte auch alles ganz anders laufen können, denke ich. Mich nerven meine eigenen Gedanken. Ständig sehe ich diese Bilder vor mir. Es nervt. Und es stinkt immer noch in der Wohnung – trotz Lavendel-Spray. „Sie ziehen dann mit ihren Kindern in die Wohnung?“ hatte mich die alte Dame gefragt. Ich nickte. Ich hatte keine Lust auf persönliche Fragestunde, da ich mit dem Luftanhalten beschäftigt war. Sie schaute mich an und erwartete eine Erklärung. „Mein Mann ist tot.“, sagte ich. Die alte Dame schaute mich verschreckt an. „Das tut mir schrecklich leid für sie“, sagte sie.

Mir ist nichts anderes eingefallen und somit hatte die Dame auch irgendeine Antwort, mit der sie die Situation offenbar gut in irgendeine Schublade schieben konnte. Ich zuckte einfach nur mit den Schultern. Von Scheiße kommt Scheiße. Ob meine jüngste Tochter gut im Hort angekommen ist? Was ich mich auch ständig frage ist, warum die Leute ihre Zigarettenkippen an der Bushaltestelle nicht in den Mülleimer werfen können. Warum werden die Zigarettenkippen vor den Mülleimer geschmissen? Ich dachte, in Berlin gibt es dafür jetzt ein Strafgeld. Auch egal, scheint hier niemanden zu interessieren. Als ich das letzte Mal an der Bushaltestelle gestanden hatte, hat es nicht nur nach alten Zigaretten gestunken, sondern auch nach Wodka, der neben mir ausgeflossen war. Es war diese Dose, die jemand einfach so auf den Fußboden geschmissen hatte. Der Wodka floss fast bis zur Straße hin.

Es stinkt immer noch in der Wohnung. Ich stehe auf und suche nach dem anderen Raumspray. Es ist ziemlich traurig, was passiert ist. Ich hasse es, wenn der Zweifel mich packt. Wo ist das Vanille-Spray? Hier unter der Spüle muss es doch sein, da war doch auch die Lavendel Sprühflasche. Ich schmeiße vor Wut die Spülmittel und das Waschpulver aus dem kleinen Schrank. So eine verdammte Scheiße. „Herzlichen Glückwunsch zur neuen Wohnung“, sagte ein Bekannter. Halts Maul, dachte ich und lächelte freudig. Wo ist das verdammte Raumspray? Mein Handy bimmelt. Scheiße, wo ist das Teil? Ich stehe auf, stolpere über das Waschpulver und trete es mit dem Fuß durch den Flur. Aufgelegt. Auch egal. Da liegt ja das Raumspray. Ich hatte es heute morgen auf das Sofa geschmissen, als ich bemerkte, dass ich den Zettel für die Klassenreise noch ausfüllen musste. Ich war total aufgeregt, als ich etwas später in den Nachrichten gehört hatte, dass es für die Familie besser sei, wenn die Frau nicht mehr Teilzeit arbeiten gehen sollte. Es sei doch das Beste, wenn sie auch Vollzeit arbeitet, damit sie ein gutes Vorbild für die Kinder sein kann. Die Frau, die mir eine schönere Wohnung angeboten hatte, wollte 3000 Euro Cash auf die Hand. Einfach so. Ja, da wäre ein Vollzeitjob wirklich besser gewesen. Dann hätte ich mir das mit den 3000 Euro noch mal genau überlegt. Und nun sitzen wir hier in dieser Bruchbude. Und es stinkt, obwohl ich schon wild mit dem Raumspray herum gesprüht habe. „Gegenüber wohnt eine nette Familie, die kann man auch mal um Hilfe fragen“, hatte die alte Dame gesagt. „Das sind auch Ausländer, aber die sind ganz nett“, fügte sie hinzu. „Ich glaube, die kommen aus Afghanistan. Die sprechen arabisch,“ sagte sie. „Gut zu wissen“, antworte ich freundlich. Seit wann wird in Afghanistan Arabisch gesprochen? frage ich mich. Auch egal.

Das Handy. Wo ist es denn? Da unten ist es ja. Unter dem Tisch. Ist es mir vorhin heruntergefallen? Ich nehme es in die Hand und bemerke, dass mich meine Tochter angerufen hat. Ich drücke auf die Wahlwiederholung. „Mama, die Jungs haben sie eben so krass im Klassenraum geprügelt, dass der Krankenwagen und die Polizei gerufen werden mussten. Mit mir ist alles okay. Ich komme jetzt früher nach Hause. Und dann hauen wir von hier ab, okay?“ 




Kristin Jankowski ist Journalistin, Autorin und Muay Thai Trainerin. Sie hat mehrere Kinderbücher in Ägypten veröffentlicht und ein Theaterstück mit unterprivilegierten Jugendlichen auf die Bühne gebracht. Derzeit arbeitet sie in einem Berliner Frauengefängnis und in einem Frauenhaus als Fitness Coach. Sie ist Mutter von drei Töchtern. 







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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