Leandra Bulla für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Die letzte Würde der Motte
Sie setzt ihren Fuß auf den reglosen Leib des dunklen Tieres, und unter ihrer Schuhsohle ertönt ein Knacken, so widerwärtig scharf, dass mir augenblicklich der Magen rebelliert. Es ist ein Klang, der sich – wie eine ungebetene, allzu deutliche Erinnerung an die Fragilität von allem Lebendigen – in die Stille drängt. Sie schenkt der Motte keinen zweiten Blick; deren gemusterte, nun grotesk gespreizte Flügel liegen wie falsch sortierte Papierseiten auf dem staubigen Boden.
Doch ich selbst vermag mich nicht abzuwenden. Es ist nicht dieses sensationslüsterne Starren, das Menschen an Unfallstellen zu Scharen formiert; kein niederer Drang, Teil eines grausigen Publikums zu werden. Nein, ich kann nicht wegsehen, weil mich plötzlich eine Trauer überfällt, die so unvermittelt wie unvernünftig erscheint. Mit jeder Sekunde wird mein Herz schwerer.
Sie bemerkt es natürlich – sie ist schließlich nicht blöd–, und ihre Stirn legt sich in steile Falten. Erst als sie meinem Blick folgt, scheint sie zu ahnen, woher meine Verstimmung rührt. Oder vielleicht ahnt sie es auch gar nicht richtig, denn sie fragt, nicht ohne jenen spöttischen Unterton, ob ich tatsächlich wegen der Motte so niedergeschlagen sei. Das ungläubige Kopfschütteln, das ihre Frage begleitet, entgeht mir ebenso wenig.
„Würdest du eine Bekannte oder, ja, auch nur eine Fremde so achtlos liegen lassen?“, frage ich.
Sie schnaubt entrüstet, als hätte ich den Gipfel der Absurdität erklommen. „Es ist doch bloß ein Insekt! In keiner Weise vergleichbar! Die können nicht einmal bei Lebzeiten denken. Die fliegen nur herum, getrieben vom bloßen Überlebenstrieb.“
Mir ist es nur recht, dass sie sich abwendet und mit energischen Schritten davon stapft, als müsse sie der Lächerlichkeit dieser Szene entfliehen. Vielleicht tut sie es ja auch.
Mag sein, dass in dem Kopf der Motte nie ein Gedanke im menschlichen Sinne entstanden ist. Doch hätte dort ein Schmetterling gelegen – farbenprächtig, von Poeten gern vertreten –, man hätte ihren Wert vermutlich nicht im selben Atemzug infrage gestellt. Ich hebe das kleine, zerdrückte Wesen behutsam auf, gewähre der Motte die Würde, die ihr im Leben nicht zuteilwurde. In einem hohen Blumentopf schaufle ich ihm ein beinahe rituelles Grab. Eine Träne, die ich mir nicht erklären kann, droht mir über die Wange zu rollen.
Mit meinem nur bruchstückhaften Wissen über Motten beginne ich in den folgenden Tagen und Nächten, mir eine kleine Mottenfamilie auszumalen, die vergeblich auf die Heimkehr ihres Mitglieds wartet – ein Heimweg, der niemals mehr angetreten wird. Ich weiß, dass Motten nicht denken wie wir, nicht einmal in meinen kühnsten Fantasien. Doch Haben sie nicht dennoch ein Recht zu sein? Und wer wäre der Mensch, dieses Recht abzusprechen?
Seit jenem Ereignis vergeht keine Begegnung mit einer Motte, in der ich ihr kein Lächeln schenke. Und wenn ich dafür Spott ernte, was keineswegs selten ist, stelle ich mir insgeheim die Frage, ob jene Spötter je darüber nachgedacht haben, ob sie selbst überhaupt eine Berechtigung zu ihrer Art des Daseins besitzen. Denn ihr Denken reicht offenbar kaum so weit, anderen Lebewesen wenigstens freundliche Akzeptanz– wenn schon keinen Respekt– entgegenzubringen.
Und so vergeht keine Begegnung mit einer Motte, in der ich nicht, nur zur Sicherheit, falls Motten heimlich doch hochintelligente Gedankenleser sein sollten, stumm versichere:
Du bist gut so, wie du bist. Du brauchst auch kein prächtiger Schmetterling zu sein.
Leandra Bulla
Die Autorin ist Ende 2009 geboren und lebt in Berlin..
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