Jakob Matthiessen für #kkl59 „Ich denke, also bin ich „
Das Gleichnis von der Kugel des Wissens
Unser Wissen gleicht einer sich stetig ausweitenden Kugel. Unser Unwissen ist all das, was sich jenseits der Kugel befindet, dem Außen. Und unsere Fragen, die befinden sich in der hauchdünnen Oberfläche der Kugel, der Sphäre, wie man auch sagt.
Vor Millionen von Jahren, als wir noch wie Tiere lebten, war die Kugel des Wissens klitzeklein, sie glich eher einem Punkt als einer Kugel. Wir lebten ganz einfach im Hier und Jetzt und taten, was uns die Natur befahl: Nahrung suchen, essen, schlafen, verdauen, Kinder bekommen und diese großziehen. Und irgendwann starben wir. Waren wir damals glücklich? Auf jeden Fall machten wir uns keine Sorgen um das Morgen.
Irgendwann entdeckten wir, wie man mit Steinen, wenn man sie aneinander reibt, Feuer entfachen kann. Und wir begannen, mit den Sehnen der Tiere scharfe Steine an Knochen zu binden. So hatten wir Äxte und schlugen damit Äste von den Bäumen. Mit unseren Steinmessern entfernten wir die Innereien von Eichhörnchen, Wildschweinen und Wölfen, bevor wir sie auf dem Feuer brieten. Auch hefteten wir spitze Steine an die Enden von langen, geraden Ästen. Mit solchen Speeren erlegten wir Tiere und töteten unsere Feinde, wenn sie uns aus unseren Höhlen vertreiben wollten.
Manche von uns fragten sich, mit welchem Gestein, mit welchem Hau man die Axt noch schärfer, den Speer noch spitzer machen könnte, damit er sich noch tiefer in das Fleisch des mächtigen Mammuts hineinbohren würde.
Wir probierten unterschiedliche Gesteinsarten aus, Basalt, Quarz und Feuerstein. Wir versuchten dieses und jenes, abschlagen, schaben oder brechen. Wir experimentierten! Aber jedes unserer Experimente beruhte auf dem Wissen, das uns von unseren Vorfahren bereits mitgegeben worden war. Die Kugel des Wissens wurde so langsam größer. Und auch wir lehrten unseren Kindern, was wir von unseren Eltern gelernt und was wir selbst neu herausgefunden hatten.
Mit der Zeit, Jahrtausende vergingen, gelang es uns immer besser, die gewünschten Wirkungen zu erzielen. Aber jenen ganz neuen Hau mit jenem unbekannten Gestein hatten nur wir im Hier und Jetzt ausprobiert. So kam in jeder Zeit ein wenig neues Wissen hinzu.
Unsere Experimente fanden an der Oberfläche der Kugel des Wissens statt, der Sphäre unserer Fragen. Aufgrund dessen, was wir bereits wussten, konnten wir noch präzisere Fragen stellen und noch ausgeklügeltere Experimente durchführen. Wir fanden noch geeignetere Gesteine und perfektionierten die Haue, von denen wir bereits wussten, dass sie gut waren. Unser Fragen und Experimente waren wie Pfeile, die die Sphäre unserer Fragen noch weiter hinaus in das Außen trieben.
Wenn unsere Artgenossen starben, fragten wir uns, was mit diesen wohl geschehen sein mochte. Wir stellten uns vor, dass unsere Ahnen in den Bäumen und Tieren weiterlebten, manchmal hörten und sahen wir sie sogar darin. Eines Tages richteten wir den Blick gar in den Himmel und fingen an, die Sterne zu bestaunen. Einige von uns glaubten bald, unsere Ahnen lebten zusammen mit geheimnisvollen Mächten in den Gestirnen.
Wir lernten auch, unsere Stimme immer virtuoser zu gebrauchen: Wir erfanden Worte! Und bald schon, wenn wir abends am Lagerfeuer saßen, erzählten wir uns Geschichten. Darin ging es um Geburt und Sterben, Glück und Unglück und die Geister des Waldes und die Götter des Himmels, an die bald ein jeder in unserem Stamm glaubte.
Aber wir spürten wohl, dass dieser Glaube von anderer Form als unser Wissen über Steine und Haue war, denn er betraf etwas, was sich jenseits unserer Kontrolle befand. Das Innere der Kugel ist unser Wissen. Der Rand der Kugel, die Sphäre, sind unsere Fragen. Und all das, was sich jenseits des Sphärenrandes befindet, dem Außen, das war das Reich der Geister und Götter.
Wenn wir vor Regen und Wind geschützt in unseren Hütten um das Feuer saßen, gab es weise Frauen und Männer, die mit den Seelen unserer Ahnen sprachen. Von ihnen erfuhren wir, wie es im Reich des Todes aussah, und auch, was am Anfang der Welt war und was am Ende der Welt geschehen wird.
Wir schmückten diese Geschichten immer weiter aus, denn wir fanden Gefallen daran. Auch sannen wir darüber nach, wie die Geister das Leben der Menschen bestimmten und wie wir die Götter im Himmel günstig stimmen konnten. Von Generation zu Generation erzählten wir diese Geschichten fort, denn sie gaben uns Trost und Sinn und sie wurden dabei immer schöner und kraftvoller.
Eines Tages fanden wir Kupfer in Erzen, die zufällig in unseren Feuern lagen. Welch ganz besonderer Moment, als der erste menschliche Finger ein Stück dieses rotbraunen Stoffes, das aus einem Erz getropft und erkaltet war, befühlte und bog.
Bald lernten wir so auch andere Metalle kennen: Blei und Zinn. Und wir lernten diese Metalle zu mischen, um daraus Bronze herzustellen. Damit ließen sich noch bessere Äxte, noch schärfere Messer und noch spitzere Speere herstellen. Und dazu noch vieles mehr: Töpfe, Löffel und kunstvoll angefertigte Halsketten, Armringe und Ohrgehänge, die wir unseren Liebsten schenkten.
All dies lernten wir von unseren Eltern und Großeltern, doch probierten wir auch immer wieder Neues. Aber all das, was wir neu versuchten, beruhte auf dem, was wir von den Generationen vor uns gelernt hatten, also dem, was sich zu jener Zeit innerhalb der Kugel des Wissens befand.
Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Geschichten, die wir uns erzählten, immer zahlreicher, ausgereifter und glanzvoller. Die tiefsten dieser Geschichten nannten wir Gottes Wort. Und, weil uns diese Geschichten so lieb geworden waren, schrieben wir sie nieder auf Rollen von kostbarem Pergament, das wir aus Tierhäuten herzustellen gelernt hatten.
Irgendwann fingen wir an, mit unseren Werkzeugen Schiffe zu bauen, große schwimmende Häuser, mit denen wir auf den Meeren umhersegelten. Dabei wiesen uns die Sterne den Weg. Und damit sich unsere Schiffe nicht verirrten, mussten wir die Bahnen der Gestirne am Himmel ganz genau bestimmen. Seitdem betraf die Kugel des Wissens nicht mehr nur Irdisches, nicht nur Gesteine, Haue, Metalle und Hütten, sondern auch den Himmel. Eines Tages taten sich zwischen den Geschichten, die unsere Ahnen über den Himmel aufgeschrieben hatten, und unseren Messungen der Bahnen der Gestirne Widersprüche auf. Unsere alten Geschichten passten nicht mehr mit unserem Wissen über die Gestirne überein. Wir mussten erkennen: Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, wie es unsere Vorfahren aufgeschrieben haben, sondern es verhält sich genau umgekehrt. Die Kugel des Wissens war über das hinausgewachsen, was unsere Ahnen vor ferner Zeit über den Bereich jenseits der Sphäre, dem Außen, ersonnen hatten.
Und weil nun unser Wissen den alten Geschichten widersprach, mussten wir unser Bild von dem, was sich einmal jenseits der Kugel des Wissens befunden hatte, revidieren.
Das war gut so, denn so wurden wir weiser.
Mit der Kugel des Wissens ist jedoch ein Paradox verbunden: Je mehr sich die Kugel des Wissens ausweitet, desto größer wird auch deren Oberfläche, also die Sphäre unserer Fragen. Immer mehr und immer tiefere Fragen taten sich auf. Es entstanden Schulen und Universitäten, in denen Gelehrte diese Fragen zu beantworten versuchten. All dies beschleunigte das Wachstum der Kugel des Wissens nochmals. Aber mit jedem Größerwerden wuchs auch die Sphäre unserer Fragen, also das Wissen um unser Nichtwissen. Denn was ist eine Frage anderes als das Eingeständnis eines Nichtwissens.
So waren sich unsere Ahnen sehr viel sicherer über das, was sich innerhalb und außerhalb der Kugel des Wissens befand, als wir es heute sind. Wir haben noch viel mehr Fragen und noch weitaus mehr Menschen arbeiten daran, diese Fragen zu beantworten. Und da sich mit dem Größerwerden der Kugel des Wissens auch die Sphäre unserer Fragen immer mehr ausdehnt, wird es für uns heute immer klarer, wie wenig wir eigentlich wissen. Mit unserem Wissen ist auch das Bewusstsein unseres Nichtwissens gewachsen.
Das ist das Paradox, in das uns der liebe Gott hineingeworfen hat.
Diese Geschichte basiert auf einer Idee, die der Autor gemeinsam mit Hans-Peter Meiser aus Hannover bei einem Abendessen entwickelt hat.
Jakob Matthiessen lebt seit mehr als 20 Jahren in Dänemark.“. Dort arbeitet er als Professor in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Robotik und Wissenschaftstheorie an der Süddänischen Universität in Odense.

Jakob Matthiessens Debütroman „Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ über die mittelalterlichen Judenpogrome im Rheinland ist im Sommer 2021 im Gmeiner-Verlag erschienen, die zweite Auflage im Sommer 2023. Basierend auf dem Roman wurde in dem Projekt Antisemitismusvorbeugung vor dem Hintergrund der Geschichte der SchUM-Städte pädagogisches Material für Schulen entwickelt. In diesem Zusammenhang wurde Jakob Matthiessen der Lotte Paepcke Preis 2025 zugesprochen.
Über #kkl HIER
