Jonas Paul für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Ich denke, also leide ich
Der Tag war eine blasse, schwermütige Schönheit. Ein weißer Himmel, von Schleiern aus hellem Grau durchzogen, schwebte stumm über dem spätherbstlichen Land und warf kleine Tröpfchen in den See, der wie teilnahmslos im sonnenlosen Morgenlicht lag und nicht anders konnte, als es sich gefallen zu lassen.
An dem flachen Ufer wiegten sich hochgewachsene Rohrkolben träge im Wind und rangen mit den verblühten Überresten vergilbter Schilfhalme, die sich auf das Sterben vorbereiteten, während in der Nähe eine einzelne Blässgans, die von ihren Artgenossen auf dem Durchzug in den Süden hier zurückgelassen worden war, hohe, bekümmerte Schreie ausstieß, die bedeuten mochten, dass sie es schmerzlich bedauerte, vergessen worden zu sein.
Irgendwo im verholzten Dickicht der schmalen, totgeweihten Halme, stieg ein Zaunkönig durch den Morast und fiepte jedes Mal hoffnungsvoll, wenn er ein Insekt erspähte.
Eine gewisse Ruhe lag in diesem frühen Tag: Gefühle des Angekommen-Seins und des Geschafft-Habens. Aus irgendeinem Grund mutete der Regen, der unablässig aus dem Himmel fiel, wie die lang ersehnte Antwort auf eine uralte und sehr schwierige Frage an.
Juniperus konnte die zahlreichen Blumen nicht beachten, die dort rings um den See aus dem dunklen Grün der Wiese emporragten und noch an den vergangenen Sommer erinnerten. Gelb, Rot, Blau, Weiß, Violett nannten sie ihr Aussehen, ohne dabei aufdringlich zu sein. Schon allzu bald würden auch sie sich einem erbarmungslosen Winter ergeben müssen und unter einer schweren Decke aus Schnee ersticken, wenn nicht die Kälte sie schon vorher zugrunde richtete.
Juniperus‘ Aufmerksamkeit galt indes vielmehr dem Regen, der auf den See herunterprasselte. Er konnte die konzentrischen Kreise, die die Tropfen auf der Wasseroberfläche hinterlassen mussten, nicht ganz erkennen, wenngleich er jedoch wusste, dass sie da waren. Aber sein Sehen war getrübt. Vormals von schwerer Trauer vernebelt, wurde sein Blick nun von etwas gänzlich anderem gedunkelt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Juniperus sein Herz nun wieder deutlich in der Brust schlagen, während er unentwegt dem Regen zuschaute, wie er auf die Barriere des Wassers fiel. Er hörte es nicht – wie auch! –, schaute dem Treiben lediglich schweigend zu und ergänzte vor seinem inneren Auge, was ihm seine eingeschränkte Sicht vorenthielt. Dies war Freiheit, das wusste er nun und er spürte, wie sich etwas löste; ein Knoten in seinem Inneren, der ihn viel zu lange geplagt hatte. Während sich ein anderer Knoten in seinem Brustkorb festzog – gewaltsam, wie ein Schiffstau, das sich spannte, wenn der Anker geworfen wurde und sich in den dunklen Tiefen des Meeres im Grund verhakte, um das Schiff am Davontreiben zu hindern.
Juniperus weinte nicht. Er zitterte nicht. Fürchtete sich nicht. Vielmehr ertrug er alles mit einer lautlosen Zufriedenheit, die an so etwas wie verstaubte Glückseligkeit grenzte.
Seit nunmehr fast zwei Minuten schaute er, beinahe schwerelos schwebend, dabei zu, wie die unzähligen Tropfen auf die Oberfläche des Sees trafen. Und das war verheerend. Er dachte nichts mehr, also hörte er auf zu sein. Das Licht begann zu schwinden. Langsam sank Juniperus immer tiefer.
Jonas Paul ist passionierter Schriftsteller und wohnt in der Nähe von Salzburg. Seine ersten kurzen Abenteuergeschichten schrieb er bereits im Alter von 9 Jahren und seitdem hat er das Schreiben nie aufgegeben. Im Gegenteil – er ist immer tiefer in die Literatur eingedrungen, hat sie hassen und lieben gelernt und kann sich heute, im Alter von 30 Jahren, ein Leben ohne sie nicht vorstellen.
Jonas Paul ist stark beeinflusst von Autoren wie H.P. Lovecraft, Edgar Allan Poe und Stephen King, die er aus unterschiedlichen Gründen schätzt. Er schreibt Gedichte, sowie Kurz- und Kürzestgeschichten, arbeitet aber auch an einigen längeren Projekten, von denen er hofft, dass sie irgendwann das Licht der Welt erblicken und den Weg in die Herzen interessierter Leser finden.
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