Christine Ibrom für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Mangel-Haft
Wer bin ich wirklich?
Wir sind die meiste Zeit des Tages verhaftet. Mit dem Ich-Gedanken und allen anderen Gedanken, die das sogenannte Ich scheinbar denkt. Dabei halten wir uns für dieses Ich, dass jedoch aus nichts anderem besteht als aus einer relativen Gedankenansammlung.
Kann ein Gedankenkonstrukt denken?
Manchmal beginnen wir unsere Sätze mit den Worten: „Ich denke …“
Zu sagen „Ich denke“ ist jedoch nicht richtig. Denn das Denken erzeugt, neben anderen Faktoren, erst die wahrgenommene Ich-Identität.
Das sogenannte Ich, von dem geglaubt wird es zu sein, besitzt allerdings keine Lokalität in uns. Genauer gesagt: Es ist keine Entität.
Gedanken leben nur ihr eigenes kleines Leben, indem sie kurz unseren Raum durchwandern. Sie sind vergleichbar mit plötzlich erscheinenden Gästen. Wir sind nicht gezwungen sie zu bewirten oder zu beherbergen. Sie kommen ohne eine Einladung und gehen ohne einen Rauswurf.
Von ungefähr 60000 Gedanken werden wir täglich gedacht. Dabei gibt es keine Instanz, die die Gedanken in die Existenz ruft. Wäre das so, müsste auch gewusst werden können, was der nächste Gedanke sein wird. Wohlgemerkt, bevor er unmittelbar in uns auftaucht.
Ein besonderer Aspekt ist unsere Angewohnheit, dem jetzigen Moment durch Gedanken zu entfliehen. Das geschieht unbewusst jedes Mal, wenn Gedankenformen erscheinen. Also so gut wie immer. Darüber hinaus gibt es allerdings eine Erscheinungsform, in dem gedankenlose Wahrnehmung möglich ist. Dieser Zustand entspricht einfach unserem natürlichen Sein. Dem, wer wir sind, bevor wir gedacht werden. Dieser Raum, aus dem heraus Gedanken überhaupt erst auftauchen können, ist nichts anderes als der gegenwärtige, einzige Moment, der existiert.
Wahrscheinlich wissen wir kaum, wie es ist, den gegenwärtigen Moment einfach als solchen wahrzunehmen. Besonders deutlich werden wir aus dem Moment geworfen, wenn uns zum Beispiel Gedanken an den Feierabend, das nächste Wochenende oder an den bevorstehenden Urlaub ins Bewusstsein springen. Das, worauf wir uns freuen, ist nicht einfach nur Freude aus sich heraus. Sondern das Gefühl, dass etwas anderes besser ist als das, was jetzt ist.
Ich würdige das Leben, so wie es mich gerade lebt, nicht. Ich erwarte in diesem Modus etwas Besseres als das, was Hier und Jetzt ist. Somit verachte ich das Leben sogar, weil ich das, was unmittelbar ist, nicht wertschätze.
Selbst dann, wenn uns die Vergangenheit verhaftet hält, entfliehen wir dem gegenwärtigen Moment. Wir verwechseln uns in Gedanken mit den nicht existenten Inhalten. Mit Erinnerungen, Retrospektiven und Reflexionen. Fakt ist: Wir sind uns nicht darüber bewusst, dass Leben nur jetzt stattfindet. Lieber rechtfertigen wir unsere gewohnten Konzepte noch, anstatt uns nur einmal bewusst auf dieses meist unbekannte Terrain des jetzigen Moments zu begeben.
Wozu auch? Würde uns dabei etwa irgendein Nutzen ereilen? Wenn wir das fragen, haben wir sicher noch nicht wirklich realisiert, dass das Leben im gegenwärtigen Moment alles ist, was wir haben. Und dass wir das Leben verpassen, wenn wir diesen einzigen Moment nicht als solchen wahrnehmen können. Wenn wir den einzigen Moment den es gibt übersehen, versäumen wir das Leben. Wir befinden uns in einem Mangelbewusstsein, weil die Wirklichkeit der unmittelbaren Lebendigkeit nicht gleichzeitig erfasst werden kann.
Was heißt es, das Leben nicht zu versäumen? Sich also nicht länger in der gedanklichen Verhaftung zu befinden?
Bewusstheit darüber zu besitzen, dass das Leben mich nur in diesem einen und einzigen Augenblick lebt. Nicht gestern oder morgen. Nicht vor einer Minute. Nicht in einer Stunde oder am nächsten Wochenende. Oder wenn ich glaube, mich durch Urlaub von meinem Leben erholen zu müssen. Lebendigkeit existiert nur jetzt. Nicht als Vorstellung oder Erinnerung.
Es bedeutet ganz bewusst den Fokus zu verschieben. Von gedanklicher Verhaftung mit einem Ich-Konstrukt in einem Zeitkonstrukt – hin in die Lebendigkeit selbst.
Sich nicht in der Ich-Wahrnehmung zu befinden bedeutet, dass ausschließlich Wahrnehmung existiert. Ohne die innere Stimme, die alles etikettiert. Dabei spricht diese Stimme die meiste Zeit des Tages zu allem Überfluss auch noch von mir oder über mich. Lässt sich das bemerken? Identifiziere ich mich mit dieser Stimme? Glaube ich diese Stimme zu sein? Glaube ich womöglich noch den konstruierten Inhalten?
Kann es einen Vorgeschmack darauf geben, wie es sein könnte, nicht mit der inneren Stimme identifiziert zu sein? Sondern den Raum hinter dieser Stimme erkennen zu können?
Sich selbst vielleicht sogar als den Raum der Stille hinter dem inneren Lärm erfassen zu können? Dass es bei diesem plappernden Ich um unsere unhinterfragte Alltagswahrnehmung geht, kann sicherlich bemerkt werden. Doch kann auch bemerkt werden, dass es sich beim plappernden Ich um eine Fata Morgana handelt?
In unserer gewohnten Wahrnehmung ist „an den Gedanken zu haften“ so normal, dass wir nicht auf die Idee kommen, diese Gewohnheit zu hinterfragen. In diesem unbewussten Modus sind wir allem, was in uns geschieht, vollständig ausgeliefert. Wir halten es für die Wahrheit ein Ich zu sein und glauben, dass wir als dieses Ich eine Kontrolle über uns hätten. Dabei können wir die Gedanken nicht kontrollieren. Doch es kann bemerkt werden, wie die Gedanken uns kontrollieren.
Die Verhaftung besteht insbesondere darin, dass uns dies nicht bewusst ist. Sie besteht in der Unbewusstheit der Verwechslung mit diesem Ich-Konstrukt sowie in der Fehlannahme, dieses Ich könne denken oder Wahrheiten verkünden. Sich mit dem Ich-Gedanken oder dem Denken zu identifizieren, ist genauso unlogisch, wie sich mit seinem Blutkreislauf zu identifizieren. Die Vorgänge in einem Bioorganismus geschehen im Zusammenspiel. Keine Vorgang kann isoliert dafür herhalten, sich als das zu bezeichnen, was man in Wirklichkeit ist.
Von der Annahme der Denker zu sein, können wir uns verabschieden. Genauso von der Annahme einer Gedankenkontrolle. Wir können diese vermeintliche Kontrolle nicht einmal verlieren, da wir sie sowieso nie hatten.
Die Bereitschaft, den sogenannten Denker als ein Konstrukt zu entlarven, kann die Haft lösen. So entsteht eine Gelassenheit, die nicht durch friedvolle Gedanken erzeugt wird, sondern durch die Abwesenheit der verhafteten Persona, die mit Gedanken identifiziert war.
Die Haltung verändert sich, wenn wir nicht verspannt im Wenn und Aber haften, sondern uns entspannt im Hier und Jetzt befinden. Wir fließen einfach mit dem, was unmittelbar durch uns hindurchfließen will. Neben Gedanken sind das gleichermaßen Gefühle und Emotionen, die als solche bemerkt werden, solange sie intrinsisch auftauchen. Ohne Widerstand und ohne uns mit einem aufkommenden Gedanken oder einem Gefühl inhaltlich zu verhaften, bemerken wir nur, was in uns geschieht. Wir sind uns des gegenwärtigen Moments bewusst.
Ein paar Beispiele können vielleicht eine Herangehensweise sein, um die Lebendigkeit, die wir sind, wahrnehmen zu können. Wir können entdecken, dass und wie das Leben uns nur jetzt lebt. Die eigene Lebendigkeit kann erfasst werden. Anstelle der gewohnten gedanklichen Verhaftung.
Beim Gehen können wir die Berührungen unserer Füße mit dem Untergrund spüren. Beim Sitzen unseren Körper in Verbindung mit dem Stuhl sowie die Verbindung der Füße mit dem Boden. Wir stellen fest, dass Sehen und Hören, Denken und Fühlen unmittelbar in uns stattfinden.
Ganz klassisch können wir den Fokus auf den Atem richten. Er ist unser Lebenselixier und findet natürlich nur unmittelbar statt. Achtsam bemerken wir die ein- und ausströmende Luft und das gleichzeitige Heben und Senken unserer Körpermitte. Die Bewusstheit auf den Atem zu fokussieren, bedeutet dabei identisch mit dem Moment zu sein. Nicht aus ihm herausfallen zu können. Selbst beim Reden und Zuhören kann diese Gegenwärtigkeit aufrechterhalten werden. Man kann sich ebenfalls der inwendigen Vitalität des Körpers bewusst sein.
Diese Bewusstheit ist es, die die eigene Lebendigkeit spürt. Die unmittelbare lebendige Wahrnehmung ist gleichsam der Fokus auf den einzigen Augenblick. Auf den einzigen Moment, der existiert.
Es ist wie ein Paradigmenwechsel aus der Mangel-Haft auszusteigen. Um stattdessen das Sein an sich wahrnehmen zu können.
Die Mangel-Haft war wie ein Schatten, der unsere natürliche Lebendigkeit verdunkelt hat. Diese Lebendigkeit ist identisch mit dem Raum, aus dem heraus Denken und Handeln einfach auftauchen. Es war sogar niemals anders. Nur unsere Mangel-Haft hat diese Perspektive nicht wahrnehmen können.
Die Verwechslung wirklich erfassen und durchdringen zu können, verändert die komplette Aussicht das Leben betreffend.
Könnte ich also das relative und veränderliche Gedankenkonstrukt sein, für das ich mich unbewusst immer gehalten habe und mit dem ich identifiziert war?
Muss das, was ich in Wirklichkeit bin, nicht zwingend absolut und unveränderlich sein?
Bin ich vielleicht sogar identisch mit diesem einzigen Augenblick, den es gibt?

Christine Ibrom wurde 1962 in Bochum geboren und wohnt heute in Dortmund.
Das Schreiben ist seit Grundschulzeiten ihre Leidenschaft.
Ein Beruf im Vertrieb ließ und lässt jedoch wenig Zeit für das Hobby. Entstanden sind dennoch einige Texte, von denen eine kleine Auswahl in ihrem dritten Buch zu finden ist. Die ersten beiden Bücher sind als eine fortlaufende Geschichte erzählt. Ihre Bücher hat sie im Selbstverlag veröffentlicht. Das Schreiben ist bis heute ein Hobby geblieben.
Das Herzensthema beim Schreiben ist die Selbstfindung oder Selbsterkenntnis.
Psychologische Themen haben sie seit ihrer Jugend interessiert. Über Bücher hat sie sich einen Hintergrund angeeignet und über Gespräche mit spirituell Suchenden ein weiteres Verständnis.
Die eigene spirituelle Suche beendete sich im April 2012.
Besonders auffällig ist, dass Christine Ibrom mit ihren Texten nicht den Mainstream bedient, sondern mit außergewöhnlichen Sichtweisen punktet.
Die Adresse ihrer Website lautet: aaronshof.jimdosite.com
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