Betrachtung

Peter Baeumle-Courth für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“




Betrachtung

Ich sehe sie an, sie schaut zurück. Ihr rechtes Augenlid flattert ein wenig. Ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen. Sogar, so scheint es, in ihren Augen.

Sie ist hübsch gekleidet. Finde ich. Natürlich ist das Geschmackssache. Ein grün gemustertes, knielanges Kleid. Ein bisschen tailliert, aber nicht zu sehr. Sie trägt einfache Sandalen, ohne Strümpfe oder Socken. Das empfände ich auch als Stilbruch. Wirklich. Ihr Haar ist mittellang, dunkelblond. Sie trägt es offen. Es steht ihr. Ich finde, es harmoniert sehr gut mit dem grünen Kleid.

Ich muss an eine Zugfahrt denken. Vor gar nicht so langer Zeit.

Ich saß in Fahrtrichtung am Fenster. An einer Station kam eine junge Frau und setzte sich mir schräg gegenüber in die Vierer-Sitzgruppe. Sofort fielen mir ihre geröteten Augen auf. Entweder hatte sie zu viel getrunken, gekifft, oder sie war über irgendetwas traurig.

Von ihrer Gesamterscheinung her tippte ich auf Traurigkeit. Die Augen blickten klar, trotz der Rötung. Einmal sah sie mich für ein, zwei Sekunden an. Und ich sie. Doch wir sprachen uns nicht an, wir beide sahen dann wieder weg, woanders hin. Niemand möchte in unserer Gesellschaft jemand anderen irgendwie behelligen. Oder jedenfalls fast niemand. Wir beide, sie und ich, jedenfalls nicht. Obwohl sie, die mir völlig Unbekannte, mich beschäftigte, alleine wegen der geröteten Augen, wegen der mutmaßlichen Traurigkeit. Sicher auch, weil sie mir auf Anhieb sympathisch war. Wäre ich vierzig Jahre jünger, hätten wir vielleicht Freundinnen sein können.

Warum wirkte, was machte sie so traurig? Es war eigentlich müßig, darüber nachzudenken. Eigentlich. Die Gedanken lassen sich allerdings nicht einfach so lenken. Wie heißt es so schön? Die Gedanken sind frei.

Die junge Frau trug ein zweifarbiges T-Shirt, grün und blau. Mir schien, dass ich in meiner Jugend auch so eines getragen hätte. Das gleiche oder vielleicht ein sehr ähnliches Modell. Es hatte sicher seinen Grund, dass mir diese Erinnerung dort im Zug in den Sinn kam.

Ich stellte mir vor, dass die Frau vielleicht Stress mit ihrem Freund hatte. Vielleicht hatten sie sogar Schluss gemacht mit ihm? Oder sie war auf dem Weg zu ihm, zur Klärung, wie es weitergehen könnte. Falls. Oder sie war auf dem Weg von ihm, es würde nicht weitergehen. Trennung, Schmerz, Trennungsschmerz. Kummer.

Ich werde es nicht erfahren. Sie wird nicht erfahren, dass ich mir diese Gedanken gemacht habe. Unsere Wege haben sich einige Haltestellen später wieder getrennt. Eigentlich haben sich die Wege auch gar nicht gekreuzt, nur sehr flüchtig berührt. Ein Hauch einer Berührung.

Vielleicht war die junge Frau so etwas wie mein Spiegelbild. Vor vierzig Jahren. War ich da nicht so ähnlich. Optisch schon, alleine das T-Shirt! Doch auch mein Empfinden, meine Gefühle. Die gab es so, wie ich sie zunächst unbewusst wohl in dieser jungen Frau sah. Sehen wollte, unbewusst.

Was ist aus meinem Freund Thomas geworden? Seit wir uns – vor sehr langer Zeit – getrennt hatten, haben wir praktisch keinen Kontakt mehr gehabt. Damals gab es noch keinen Mobilfunk, kein Internet, natürlich keine „sozialen Medien“. Telefonieren ging. Und Briefe schreiben. Wenn man wollte. Und sich aufraffen konnte. Wie es ihm heute gehen mag?

Ich war sehr traurig, als er ging. Damals. Und sehr lange war ich traurig. Erst viel später habe ich eingesehen, dass er gehen musste, dass ihn nichts in der Stadt, in unserer Stadt, nichts wirklich bei mir halten konnte. Traurig, aber es war so. Und später wurde mir klar, dass es auch besser so war.

Erlebte die Frau im Zug etwas Ähnliches?

Überraschenderweise erinnere ich mich in diesem Moment an verschiedene Zeitungsmeldungen. Die von Senioren erzählen, die sich mit ihrem Navigationsgerät verfahren haben, falsche Abzweigungen auf der Autobahn genommen haben, in Orten gelandet sind, die genauso heißen wie das Wunschziel, jedoch einige Hundert Kilometer davon entfernt.

Ich kehre aus meinem Tagtraum in den wirklichen Tag zurück. Entdecke auf meinem grün gemusterten Kleid einen Marmeladenfleck. Wie ärgerlich.

Die Frau steht immer noch da. Lächelt wieder. Hebt einen Arm genau in dem Moment, in dem auch ich einen Arm hebe. Ich sehe sie an, sie schaut zurück. Ich sehe jede meiner Bewegungen in dieser Frau. Fast identisch. Zeitgleich. Mein linkes Augenlid flattert ganz leicht.




Peter Baeumle-Courth, geb. 1960.

Von 1988 bis September 2023 habe ich als Dozent für Mathematik und Informatik gearbeitet, u.a. an der privaten Fachhochschule der Wirtschaft (FHDW).

Seit Oktober 2023 befinde ich mich in meinem Ruhestand und habe neben meinem Engagement als ehrenamtlicher Schiedsmann auch ein wenig Zeit für meine Hobbys wie das Schreiben von kleinen Geschichten.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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