Vom trügerischen Licht des …

Christian Knieps für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“




Vom trügerischen Licht des Bewusstseins und der Behauptung, dadurch zu sein

Er hatte sich, als der Regen an jenem Nachmittag in die Fensterritzen kroch und die Scheiben mit der trügerischen Transparenz melancholischer Tropfen überzog, in den Lehnstuhl gesetzt, um, wie er es nannte, seine Gedanken in den Stand der Reflexion zu überführen, als wäre die Vernunft ein zerbrechliches Instrument, das man, gleich einem barocken Instrumentarium des Geistes, erst stimmen müsse, bevor es den Ton der Erkenntnis hervorzubringen vermöge, und während er so das Summen des Hauses, das Knacken des Holzes, das gedämpfte Ticken der Uhr, das Langziehen der Zeit in sich aufnahm, überkam ihn jener alte Gedanke, der so viele vor ihm ergriffen und zugleich verführt hatte: Ich denke, also bin ich, eine Formel, die ihm in ihrer übertriebenen Klarheit ebenso suspekt erschien wie ein zu sauber geputzter Spiegel, in dem sich nicht das eigene Gesicht, sondern nur das Bedürfnis nach Gewissheit und Selbstversicherung spiegelt.

Er erinnerte sich an jenen blassen Franzosen, Descartes, der, von der Skepsis des Jahrhunderts heimgesucht, in einer Kälte des Geistes seine Welt neu errichtete, als könne der Zweifel selbst zum Fundament werden, und er fragte sich, ob diese heroische Tat des Denkens – das Selbst als letzte Bastion gegen den Abgrund der Kontingenz – nicht vielmehr der Anfang einer langen Entfremdung war, einer intellektuellen Hybris, die den Menschen vom Sein trennte wie eine sterile Glaswand den Beobachter vom Objekt, das er seziert; denn was war das Ich, wenn nicht ein künstlicher Knotenpunkt, an dem sich Bewusstsein, Sprache und Erinnerung in einer nur scheinbar stabilen Formation kreuzen?

Er griff nach seinem Notizbuch, das schon vor Jahren zu einem Archiv seiner eigenen Selbstbefragungen geworden war, und notierte in einer Schrift, die zitterte wie der Gedanke selbst: Das Denken ist vielleicht nicht die Ursache des Seins, sondern dessen Symptom, und er lächelte über die paradoxe Formulierung, wissend, dass Husserl ihn dafür gescholten hätte, weil sie die Intentionalität des Bewusstseins verkenne, jene eigentümliche Ausrichtung auf etwas, die das Denken überhaupt erst als Denken qualifiziert; doch während er das notierte, empfand er die merkwürdige Leere, die entsteht, wenn man sich selbst beim Denken denkt, eine Art phänomenologischen Kurzschluss, als hätte sich das Bewusstsein im Akt seiner Selbstvergewisserung verfangen wie ein Spiegel, der in einen anderen Spiegel blickt und dabei seine eigene Tiefe verliert.

Er versuchte, Kants Stimme in seinem Gedächtnis zu rekonstruieren, dieses ernste, systematische Timbre, das in den Gängen der Vernunft widerhallte, und er stellte sich vor, wie Kant ihm, streng wie ein preußischer Hauslehrer, erklärte, dass das Ich kein Ding sei, sondern eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, ein formales Prinzip, ohne das weder Raum noch Zeit, weder Moral noch Mathematik Bestand haben könnten; aber er konnte sich nicht dazu bringen, diese Kühle der Vernunft noch zu glauben, zu lange schon hatte er die Schatten gesehen, die hinter den Begriffen lauern, jene ontologische Müdigkeit, von der Heidegger sprach, wenn er das Denken aufforderte, nicht das Seiende, sondern das Sein selbst zu befragen, als wäre es ein vergessener Gott, den man im Sprechen selbst wiederfinden müsse.

Doch was, dachte er, wenn dieses Sein gar nicht vergessen, sondern schlicht abwesend war, nicht durch Nachlässigkeit, sondern durch Struktur, wie Foucault es wohl gesagt hätte, der das Subjekt in den Diskursen der Macht verortete und damit aus dem Zentrum der Erkenntnis hinausbeförderte, als wäre das Ich nur ein Effekt von Dispositiven, eine Figur im Schachspiel der Sprache, deren Regeln älter sind als jeder Spieler; und während er darüber nachsann, dass vielleicht nicht er denkt, sondern gedacht wird, dass sein Bewusstsein nur eine nachträgliche Rationalisierung des bereits Geschehenen sei, überkam ihn jene eigentümliche Müdigkeit, die nicht körperlich, sondern metaphysisch ist, jene Müdigkeit, die Derrida so kunstvoll zwischen den Zeichen versteckte, wenn er die Spur des Sinns immer schon in Auflösung begriffen sah, ein perpetuelles Verschieben, in dem das Ich wie eine Fußspur im Sand verweht.

Er stand auf, ging zum Fenster und sah in die graue Straße, in der die Menschen hastig unter ihren Regenschirmen verschwanden, und er dachte, dass sie alle, in diesem Moment, in der stillen Überzeugung lebten, Subjekte ihrer selbst zu sein, während doch jeder Gedanke, jede Regung, jede kleine Entscheidung einem Netzwerk von Ursachen entspringt, das sich ihrer Einsicht entzieht wie das Meer dem Tropfen, der glaubt, es zu begreifen; und er fühlte, dass das Cogito, diese stolze Selbstermächtigung des Geistes, nur eine Etappe in der Geschichte der Selbsttäuschungen war, eine jener glänzenden Lügen, die sich die Menschheit erzählt, um das eigene Verschwinden im Strom der Zeit zu ertragen.

Als der Abend kam und das Licht sich in einem letzten Aufblitzen von Gold auf den Scheiben brach, notierte er, mit einer ruhigen Hand – dabei war er fast zärtlich: Vielleicht bin ich nicht, weil ich denke, sondern weil ich gezwungen bin, das Denken für mein Sein zu halten, und er schloss das Notizbuch, als hätte er damit nicht ein Problem, sondern eine Schuld begraben; draußen rauschte der Regen, und für einen Moment, nur einen winzigen Moment, der weniger als das Wenigste erschien, fühlte er sich, ohne zu denken, vollkommen da und in sich anwesend – und das war vielleicht, ohne dass er es wusste, der einzig wahre Beweis seines Seins.




Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet als Abteilungsleiter bei DHL Express in Bonn und schreibt Theaterstücke (veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, Plausus Theaterverlag, meintheaterverlag und Ostfriesischer Theaterverlag), Kurzgeschichten (in einigen Zeitschriften wie Dreischneuß, experimenta, Litges… veröffentlicht) und Romane.

http://christianknieps.net/

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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