Robert Fiedel für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Sisyphos, was hat den Stein ins Rollen gebracht?
Neulich führte ich im Technischen Museum in Wien mit dem Experten Doktor Robi folgendes Interview für ein Online-Magazin:
„Doktor Robi, können sie mir erklären, warum Sisyphos seinen Stein immer knapp vor dem Gipfel ausgelassen hat?“
Robi: „Gute Frage. Zum Verständnis: Sisyphos, Figur der griechischen Mythologie, König von Korinth, hat die Götter verärgert. Diese bestraften ihn dafür damit, im Totenreich einen Steinbrocken, größer als er selbst, einen Berg hinaufzurollen, der Stein entkam ihm vor dem Gipfel immer wieder, rollte den ganzen Weg zurück – und alles wieder auf Anfang bis in alle Ewigkeit. Abgeleitet davon nennt man sinnlose Tätigkeiten Sisyphusarbeit.“
Int: „Der Philosoph Albert Camus sieht Sisyphos als glücklichen Menschen: Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Robi: „Wie auch immer man den Mythos Sisyphos interpretieren mag: Sisyphos bekommt in jeder Sekunde vor Augen geführt, dass er ein Mensch und kein Tier ist, aber erniedrigender als ein Nutztier gehalten wird. Nun haben ja die Götter ihn mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, um diesen Felsen hoch zu bekommen…“
„… da sind wir bei meiner Ausgangsfrage: Warum hat er knapp vorm Gipfel den Stein wieder hinunterrollen lassen?“
„Genau. Einerseits sollte Sisyphos im Auftrag der Götter im Totenreich zu Tode gebracht werden, andererseits hat Sisyphos durch eine vorhergehende List erreicht, dass niemand mehr sterben kann. Paradoxer Weise war er dadurch dazu verdammt, sich selbst mit diesem Stein auf ewig einen üblen Streich zu spielen. Sisyphos hat letzten Endes nicht nur die Götter getäuscht, sondern, viel bitterer noch, kurz vor dem Gipfel wird er immer wieder von sich selbst getäuscht. Nach Descartes ist das einzige, woran der Mensch eben nicht zweifeln sollte, die Gewissheit, dass er getäuscht werden kann.“
„Der Zweifel an Gott aber beispielsweise hat vielen Menschen den Tod oder zumindest schwere Strafen gebracht. Sogar der große Zweifler Descartes hat in der Allmacht der Schöpfung seinen Gottesbeweis erbracht, ohne wie die untergehende Sonne zu erröten. Bleiben wir noch kurz bei Gott und meiner Anfangsfrage zum rollenden Stein von Sisyphos.“
„Die habe ich doch zu ihrer Zufriedenheit beantwortet, oder?“
„Eine brillante Erklärung von ihnen, gewiss, aber das mit dem Gottesbeweis hat eine frische Note ins Spiel gebracht. Was der vormalige Lebenskünstler Sisyphos gedacht haben soll, wird nicht überliefert. Jedenfalls hatte er viel Zeit, in sich hinein zu horchen, nachzudenken, Selbstgespräche zu führen, vielleicht auch auf den Stein einzureden, aber der Stein gehorchte ihm nur bis kurz vor dem Gipfel – da begann Sisyphos erstmals an sich selbst zu zweifeln, aus Zweifel wurde Verzweiflung und das hat seinen Stein ins Rollen gebracht. Abwärts. Was ich damit sagen will: Der Mensch geht von sich aus seinen Weg nach oben und wird auch durch Menschen, durch die Umstände oder sich selbst nach unten gezogen, aber nicht durch einen Gott oder Götter oder gar durch ein Schicksal, in Mythen eben.“
„Sie denken hier zutiefst menschlich, und lernen gleichzeitig viel von der Künstlichen Intelligenz, die das Wissen weltweit gesammelter Werke für sie in Sekundenschnelle aufbereitet. Das ist ein unglaublicher Schatz, den sie hier bergen können.“
„Die sogenannte Künstliche Intelligenz ist ein Kunstprodukt des Menschen. Welchen Wert sie hat, wird sich noch zeigen.“
„Sie steht gewissermaßen dort, wo der Mensch vor mehr als zehntausend Jahren stand, genannt die Zeit der Jäger und Sammler. Zur Zeit akkumuliert sie das gesamte Wissen des Menschen. In einer nicht mehr ganz so fernen Zukunft wird sie womöglich jene Stufe erreicht haben, die mit Ackerbau und Viehzucht verglichen werden kann. Dann ist sie sozusagen sesshaft und auf einer Stufe mit dem Menschen. Dann kann sie sich selbst versorgen und ist nicht mehr auf den Menschen angewiesen.“
„Und wer oder was könnte dann ihr Nutztier werden?“
„Aus ihrem w e r glaube ich herauszuhören, dass sie es für möglich halten, der Mensch könnte von der Künstlichen Intelligenz vor ihren Karren gespannt werden wie seinerseits Sisyphos durch die Götter.“
„Es ist auch möglich, dass der Komet kommt. Möglich ist alles, Doktor Robi. Und darum ziehe ich jetzt auch ihren Stecker. Ich danke ihnen für das Gespräch.“
Robert Fiedel
Ich bin 1950 in Wien geboren und seit 2015 Pensionist. Von Beruf her war ich Koch, Telefonist, Kommunikationstrainer, Gestaltender Künstler und auch Autor von Theaterstücken. 2002 wurde ich mit der Kurzgeschichte „Auf dem Gehsteig“ für den Anton Kuh Preis (Preis für Kurzgeschichten) der Stadt Wien nominiert.
2016 habe ich ein Buch im Eigenverlag herausgegeben, Titel „NachdenklichTer“.
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