ich denke auf papier

Emilia Walder für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“




ich denke auf papier

tiefes wasser, bewölkter himmel, wellen schlagen mich aus meinem roten faden, knoten bilden sich, weit und breit nur ein schlagendes herz, meines, das scheint aus meiner brust springen zu wollen.  4 leere seiten, 5 vollgeschriebene, 50 ausgerissene, zerknüllte. 

zerfledderte segel, boot mit klaffenden löchern.

das segel mit ausgerissenen seiten flicken, die löcher mit zerknülltem papier stopfen. geschriebene wörter weggetragen von dem salzwasser, schwirren um meine beine herum, jeder versuch sie einzufangen zwecklos. durch meine hektik werden die wellen stärker, blau rötlich verfärbtes wasser steigt mir bis zu den knien. gleich kann ich mich nur noch mit den leeren seiten über wasser halten, ohne wörter sind sie leicht genug, um auf der wasseroberfläche zu schweben. vier leere seiten sind zu wenig, ich hätte mehr freilassen müssen, weniger schreiben sollen

wieso muss ich so viel loswerden, ablegen, was wenn meine letzte seite verbraucht ist und ich nicht mehr schreiben kann? nicht mehr denken kann?  wohin mit den erinnerungen, der angst, der trauer, der schuld, der schreie? wohin mit meinen gedanken? wohin mit mir? 

du darfst schreiben, du brauchst nichts, keine trauer, keine schuld, keine schreie, die in papier erstickt werden 

doch du darfst. du darfst die löcher mit zerknülltem papier stopfen, du darfst dein segel damit flicken, du darfst das salzwasser des meeres und deiner tränen damit aufsaugen, das papier so lange anschreien bis die geschriebenen wörter weghüpfen, du darfst alles fühlen und alles aufschreiben. du darfst leben, du darfst denken, du darfst schreiben.

aber vergiss nicht, papier kann reißen, brennen sich auflösen, dich sogar schneiden, wenn du nicht aufpasst

das schreiben wird nie dich alleine über wasser halten können, dafür ist papier nicht stark genug 

ich schreibe, also denk ich, ich denke, also bin ich




Emilia Walder, studiert Philosophie und Romanistik, Französisch, insb. Literatur- und Sprachwissenschaften. Schreibt gerne Prosa.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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