Ingrid Maestrati für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Geistige Abenteuer
„Ich denke, also bin ich“, sagte Descartes in Holland und schrieb es auf. Seine Gedanken waren gefährlich, daher hatte er es vorgezogen, im Exil zu leben.
Denken: an Dinge, die vor uns liegen. Wir werden zu Zuschauern auf Distanz. Und dann können wir uns auch nicht vorhandene Dinge vorstellen. Das Fernrohr wird länger.
„Vorstellen“, schrieb Heidegger, ist etwas Anderes als unmittelbares Erleben. In Gedanken sehen wir die Erde, als ob wir vor ihr stünden, und dabei sind wir doch mitten drin in dieser Welt.
Ich bin ein winziger Teil einer großen Welt, über die ich nachdenke und dabei mache ich die Augen zu. Die Welt als Totalität… Das Große und das Kleine – alles können wir uns vorstellen. Wir blicken auf uns selbst zurück, als seien wir zwei Personen: Die im Spiegel und diejenige, die wir sind. Eine denkt, spürt den Blick der anderen gegenüber und wird sich selbst bewusst.
Bin ich bevor ich denke oder erst danach?
Was hat Sein mit abstraktem Denken zu tun? Das Bild ist leer, das Sein als solches ist unvorstellbar. Also muss ich „ich bin“ sagen, als sichtbare Person in einer sozialen Umwelt, die ich mir aneignen muss.
Ein Kind, nennen wir es Erik, sagt mit drei Jahren „ich“ und beginnt, sich von den anderen abzugrenzen. Das geschieht über Sprache – ich, du, er, sie, es … wir, ihr etc. Positionen werden abgesteckt in unseren Beziehungen zueinander. Auch hier können wir nicht einfach aussteigen. Wir sind ein Teil dieser sozialen Welt.
„Wie kommen wir zur Existenz und zur Wahrheit im Denken?“, fragte sich Descartes.[1] Dann ging er einen Schritt weiter: Körper sind ausgedehnt im Raum und der Geist ist es auch, aber nicht greifbar.[2] Körper und Geist sind getrennt. Zwei Welten existieren nebeneinander.
Zum wahren Denken kommen wir über Abstraktion, über objektives, bewusstes Denken.
Das denkende Subjekt befreit sich von seiner Subjektivität.[3] Lieber keine schnellen intuitiven Urteile, die – in sozialen Situationen geprägt – zu Gewohnheiten werden, vor allem, wenn sie emotiv bedeutsam sind.
Dies wurde später von Kahnemann bestätigt. Intuitive Urteile, standardisiert in Denkgewohnheiten, sind eine Quelle von Vorurteilen.
Unser heranwachsendes Kind, Erik, braucht zehn bis zwölf Jahre, um abstrakt denken zu können. Vorher hat er bereits gesagt: „Ich bin ich und du bist du“ oder „Du bist größer als ich, weil du mein älterer Bruder bist“. Er hat auch als kleines Kind schon gelernt, dass man sich die Finger verbrennt, wenn man heiße Sachen anfasst. Denken geht einher mit Erfahrung – angewandtes Denken sozusagen.
Descartes ging nicht so weit: Beim Abstrahieren benutzte er logische Formeln (Syllogismen etc.). Denkwege werden beschrieben, losgelöst von dinglichen Vorstellungen.[4] Dazu brauchen wir eine Methodik.[5] Logisches Denken lässt qualitative und subjektive Aspekte beiseite und konzentriert sich auf Wesentliches. Als Garant der Wahrheit unserer Urteile sah Descartes Gott, der uns über Ideen an seiner Allwissenheit teilnehmen lässt.[6] Wir erinnern uns an sie in unserem Denken. Gott täuscht uns nicht.[7]
Bekam Descartes Angst vor seiner eigenen Kühnheit? Sagt er doch selber, dass wir uns notfalls ein „geflügeltes Pferd“ vorstellen könnten.[8] Dann wären wir von Gott verlassen, was verhindert wird über die Seele. Sie ist „völlig anders“ als mein Körper und gehört zur geistigen Welt.[9]
Schon zu Lebzeiten von Descartes ist Galileo Galieni einen Schritt weitergegangen. Statt der Anwendung von logischen Formeln wurden seine Ideen über die Gravitation zu Hypothesen, die über Experimente bestätigt oder widerlegt werden konnten. Die Resultate wurden gemessen, das Wissen wurde mathematisch. Das Problem der Gravitation wurde später von Newton auf eine mathematische Formel gebracht.
Das alles war damals wirklich gefährlich. Galileo Galilei wäre beinahe auf dem Scheiterhaufen gelandet. „Was gibt es in einer gottgewollten Welt zu berechnen?“, riefen die Inquisitoren, die eine andere Weltsicht hatten – ebenfalls abstrakt, aber mit anderen Ideen.
Also sollten wir bei unseren Vorstellungen die Fantasie nicht ins Kraut schießen lassen. Unsere Sinne können uns täuschen. Zwei parallele Linien laufen auf große Distanz zusammen in unserer Wahrnehmung, obwohl sie in Wirklichkeit parallel bleiben. Die Erdkrümmung – heute wissen wir es. Diese optische Täuschung wurde Perspektive genannt und in der Malerei bereits in der Renaissance angewandt.
Und Erik, das heranwachsende Kind, ist jetzt erwachsen. Bereits beim Spielen hat er die Welt erprobt und herausgefunden, dass abstraktes Denken Freiheiten gewährt, die wir im praktischen Handeln nicht haben. Wir können zum Beispiel mehrere Reisen planen und dann eine oder gar keine auswählen. Wären wir verreist, hätten wir damit Tatsachen mit Folgen geschaffen, die man nicht mehr ungeschehen machen kann.
Die Wahrheitsfrage von Descartes zielte auf eine einzige Wahrheit, von Gott vermittelt, die nicht falsch sein kann. Heute sprechen wir von Theorien, die sich widersprechen können. Wir können verschiedene Ansichten über ein selbes Problem haben und das gehört wesentlich zum wissenschaftlichen Austausch. Das Thema der Gravitation ist über Jahrhunderte immer wieder aufgenommen und neuen Kenntnissen der Astronomie angepasst worden.
Aber auch die Abstraktion selbst ist kein Garant eines einzigen, richtigen Denkens und darauf machte uns bereits Hegel in einem zeitlebens „unbeachteten Artikel“ aufmerksam.[10]
Abstraktion geschieht durch „weglassen“, wo wir „Aspekte eines Geschehens als vermeintlich irrelevant aussortieren,“ was Hegel als „Mechanismus abstrahierender Verflachung“ bezeichnete – mit Mustern der „Abwertung“ oder der „Idealisierung“.
Sein Beispiel: Ein Mörder wird zur Hinrichtung geführt. „Dem gemeinen Volk ist er nichts weiter als ein Mörder … es ist nichts Menschliches mehr an ihm.“
In den idealisierenden Varianten wäre er „ein schöner Mann“, der eine „religiös verzückte Einseitigkeit“ der Sichtweise hervorrufen könnte. Beides geschieht, nach Hegel, über ein „Fertigbild“… „Die Wahrnehmung bleibt abstrakt“, das Konkrete wird ignoriert aufgrund einer „irreführenden Abstraktion“ und die „Vielschichtigkeit verfehlt“.
Pörksen kommentiert dies als eine „Etikette“ oder „Verstörung der Wahrnehmungsgewohnheit“ und weist darauf hin, dass wir dennoch den „Blick aufs Ganze“ brauchen, denn „ohne Abstraktion, ohne Etikettierungen und sich vom Konkreten lösende Kategorien kann es keine Gesellschaftskritik, keine Gesellschaftsveränderung und keine Politik geben.“
Descartes hat als Erster von Abstraktion gesprochen, das ist sein Verdienst. Aber sein Denken in logischen Formeln ließ wohl kaum eine Erweiterung zu, es wurde statisch.
Das bedeutet, dass man Denken, Handeln und Sein nicht durcheinanderwerfen kann.
Wir existieren in der physischen Welt und haben die Fähigkeit, zu denken. Dabei gehen wir auf Distanz zu dem, was wir denken, auch zu uns selbst. Wir können vorausplanen oder im Nachhinein unsere Erlebnisse beurteilen und so aus Erfahrungen lernen. Aber im Sein können wir nicht gleichzeitig neben uns stehen und uns beobachten.
Descartes hat in seinem Cogito abstraktes Denken mit Sein verwechselt. Im Denken mit logischen Formeln findet kein Werden statt und wenn die Ideen von Gott übernommen werden, ist kein Raum mehr für persönliche Entwicklungen.
[1] Descartes, oeuvres, 3 Bände, Editions Garnier, Paris 1967
1. Meditation (Band 2) : … » je suis, j’existe, cela est certain »… la pensée est un attribut qui m’appartient » (p 418)
[2] Brief an…, August 1641 : “l‘esprit est coétendu au corps, encore qu’il n’ait aucune vraie extension », (p. 373)
[3] Regulae,Band1: „Il faut écarter les sens et dépouiller l’imagination de toute impression distinctive », (p. 158)
[4] Regulae (Band 1): „ce ne sont pas dans ce cas les choses elles-mêmes qu’il faudra soumettre aux sens externes mais plutôt des figures schématiques de ces choses ». … Ils seront « plus commodes…. Plus simplifiées ». (p. 144).
[5] ibid: „on ne peut pas se passer d’une méthode pour se mettre en quête de la vérité des choses. » (p.158)
[6] 3. Meditation (Band 2) : Les idées „ne dépendent de ma volonté… elles se présentent à moi malgré moi (p.435).
[7] ibid: Je n’ai aucune raison de croire qu’il y ait un Dieu trompeur », (p. 435).
[8] 4. Meditation: „La pensée n’impose aucune nécessité aux choses et comme il ne tient qu’à moi d’imaginer un cheval ailé ». (p. 466).
[9] 6. Meditation: „…l’âme est entièrement et véritablement distincte de mon corps ». (p. 490).
[10] G. W. Hegel: „Wer denkt abstrakt?“ in: B. Pörksen: Zuhören, Hanser 225 (S. 261-273)

Ingrid Maestrati
Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen:
Arbeit im Tourismus/Weltreisen,
Auslandsaufenthalte in Myanmar, Paris und Griechenland,
Studium: Philosophie und Psychologie in Paris, PhD Sorbonne
Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten,
Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen ISBN 978-3-03883-084-9, 2019,
Regelmäßige Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften
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