Uwe P. für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
Tsunami der Gedanken
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, dumpf und endgültig, als wolle sie jede Erinnerung an die Außenwelt verschlucken. Ein metallisches Klicken folgte, nüchtern, amtlich, unmissverständlich.
Hans E. Neumann saß auf dem schmalen Bett der geschlossenen Station, die Hände ineinander verkrallt, den Blick auf die weiß gestrichene Wand gerichtet. Weiß, dachte er, diese Farbe, die alle Stimmen zum Schweigen bringen soll, und doch keine davon wirklich vertreibt.
Seit drei Tagen sprach er kaum noch. Die Medikamente dämpften die fremden Geräusche von draußen, nicht aber jene in seinem Kopf. Dort drinnen hallte es wie in einer Kathedrale aus Nervenbahnen, ein Ort, an dem die Zeit anders klang.
Er dachte an die Nacht, die ihn hierhergebracht hatte. Sirenen, fremde, eindringliche und beschwörende Stimmen, Hände auf seinen Schultern. Ein Arzt, der beruhigend sprach, doch jedes Wort kam zu spät. Das Chaos in ihm war lauter gewesen als jede Erklärung.

In den Berichten der Ärzte stand: anhaltende akustische Halluzinationen, innere Stimmen, religiös-philosophischer Bezug. Doch Hans wusste, dass es keine Wahnvorstellung war. Diese Stimme war fremd, geduldig, unbestechlich. Sie kam nicht von außen, sondern von irgendwo zwischen Erinnerung und Ewigkeit.
Er dachte pausenlos an sie und begann, sie zu erwarten. Wenn die Nachtruhe über den Flur fiel und das Licht der Überwachungslampe flimmerte, lauschte er. Dann kam sie, sanft zuerst, dann fordernd, eindringlicher in seine Gedanken, als prüfe sie seine Entschlossenheit.
„Hör zu, Hans“, sagte sie. „Nicht jeder, der Stimmen hört, ist krank. Manchmal sind es die, die endlich wach sind.“
Er hatte versucht, das der Stationsärztin zu erklären. Doch sie nickte nur und schrieb weiter. Vielleicht glaubte sie, ihre Notizen seien Wirklichkeit genug. Hans fühlte sich fremd, fremd im eigenen Kopf, in den eigenen Gedanken, im eigenen Körper, in seinem eigenen Leben.
Jetzt, in dieser Nacht, lag er wieder wach. Das Summen der Neonröhre mischte sich mit seinem Herzschlag. Ein Tropfen Wasser fiel von der Waschschüssel auf den Boden, regelmäßig, wie das Ticken einer Uhr. Und irgendwo zwischen diesen Tönen begann etwas zu sprechen, klarer, eindringlicher als alles sonst. Hans atmete tief, legte die Stirn an die Wand und schloss die Augen.
Die fremde Stimme klang bedrohlich, klagend leise, tief im Gewirr seiner entzündeten Synapsen. Er hörte sie immer wieder diese eine Frage fragen, bist du bereit, immer wieder diese eine Frage.
„Bist du wirklich bereit?“
Weitere Stimmen flüsterten, kaum hörbar, unwirklich leise, nicht zu verstehen.
„Ich gebe dir noch etwas Zeit für deinen Entschluss, hörst du? Hör gut zu.
Ich schenke dir Gestern, im Tausch für Morgen. Dafür musst du mir dein Heute borgen!
Alles dreht sich nur um dich, du bist in jedem verdammten Atemzug.
Hör, wie meine Hölle in deinen Eingeweiden brennt. Hast du noch nicht genug? Es ist an der Zeit, hör gut zu, bist du bereit?“
„Du bist da, hör gut zu, ich bin bereit. Bereit für den Pakt der Ewigkeit.“
Die fremde Stimme brannte wie Säure in seinen Nervenbahnen. Hörte er sie wirklich oder konnte er sie spüren? Er dachte, vor oder zurück, immer nur ein kleines Stück.
„Gestern hast du noch geplant, Leben lebendig zu leben, doch es im Heute vergessen. Morgen denkst du. Du denkst doch nicht wirklich, du kannst endlich lebendig sein?
Höre meinen Rat:
Von Gestern über Heute in die Zukunft nach Übermorgen. Von Gestern in die Zukunft, nach Heute ins Hier und Jetzt.
Denn Heute war gestern Morgen. Weil Heute, Heute ist. Heute ist Morgen schon Gestern. Weil Gestern Morgen schon heute war.
War gestern Morgen schon Vorgestern? Oder ist Morgen Gestern schon Übermorgen?
Höre genau hin und entscheide dich weise:
Die Gedanken in seinem Kopf tobten wie ein Tsunami aus elektrischen Impulsen. Pausenloses, wildes, neon-kaltes Flackern der Gedanken.
Wo ist das jetzt im Jetzt? Jetzt im Hier und Heute. Jetzt ist immer im Jetzt. Denn jetzt ist bald schon gleich. Weil jetzt gerade jetzt ist. Und gleich schon längst vorbei sein kann.
Du hörst mir zu, aber verstehst du meiner Worte Sinn?
Wo bin ich gestrandet? Mit meinen kranken Gedanken habe ich meine Zeit verloren. Sie ist mir fremd geworden, genauso wie ich mich selber nicht mehr kenne.
Hast du deine Zeit genutzt oder verschwendet, heilte sie deine Wunden? Hörst du mich noch? Begreifst du den Wert deiner Zeit, Gestern, Heute, Morgen und in Ewigkeit?
Das Universum allein ist zeitlos im ewigen Strom der Zeit. Die Zeit ist unbegrenzt. Fremder, nur deine nicht. Die Ewigkeit ist zeitlos unbegrenzt.
Gestern ist vorüber, Morgen für dich nicht mehr da.
Deine Zeit verrinnt bereits im Hier und Jetzt.
Woher stammt die Unendlichkeit der immer neuen Zeit und was ist ihr Ziel? Wer sammelt die alte Zeit, wer bewahrt sie für die Ewigkeit, nach dem Jetzt und Hier im Gleich?
Höre auf meine Stimme, leise und klar.
Du bist ungefragt geboren, kamst fremd und allein auf diese Welt. Du alterst und stirbst allein, vom Anfang deines Lebens im endlosen Zeitenfluss. Keiner kennt dich, keiner wird sich erinnern.
Wer sammelt deine Zeit und bewahrt sie auf in Ewigkeit, nach dem Jetzt und Hier im Gleich?
Die Zeit macht alle gleich, irgendwann gleich in der Zeit der Ewigkeit, gleich in der Ewigkeit der Zeit. Fremde, Freunde, Feinde – alle gleich.
Hör gut zu und entscheide:
Besiegt dein Tod die Zeit in seiner Ewigkeit, oder besiegt dein Tod die Ewigkeit in seiner Zeit?
Bis die Ewigkeit vergeht, um sie dann mit mir zu besingen. Wenn die Welt sie denn versteht.
Doch es scheint, du bist nie dazu bereit, meine zu bewahren und die rechten Dinge zu tun, in der richtigen Zeit.
Ungefragt geboren, existiert, nichts gewonnen und auch nichts verloren.
Im Fieber von Freiheit geträumt um jeden Preis.
Frag nicht, warum ich die Freiheit liebe.
Ich weiß, dass es nichts Besseres gibt.
Halte deinen großen Traum fest, eh er vergeht.
Hans öffnete die Augen. Das Neonlicht flackerte kurz, dann blieb alles still. Nur das Tropfen hallte nach – wie ein letzter Herzschlag im Raum. Er wusste nicht, ob er endlich frei war, oder ob die Freiheit ihn verlassen hatte. Doch eines war sicher: Die Zeit gehörte ihm nicht mehr.
Uwe P. schreibt zeitgenössische Lyrik und Kurzprosa, in denen er mit präziser Sprache und feiner Beobachtung alltägliche Erfahrungen, innere Brüche und gesellschaftliche Themen verdichtet. Seine Texte bewegen sich oft zwischen Erinnerung und Gegenwart, Traum und Realität, und zeichnen sich durch eine poetische Bildsprache sowie leise Ironie aus. Uwe P. lebt und schreibt in Deutschland.
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