Christa Blenk für #kkl59 „Ich denke, also bin ich“
„Egon, würg‘ ihn!“
Wer ist Egon und wer soll gewürgt werden? Ich fühle, dass ich es wissen müsste, aber ich kann den Gedanken nicht einfangen. Es wird mir sicher gleich wieder einfallen. Das Klingeln in meinem Kopf beruhigt mich. Ich stehe kurz vor der Erleuchtung. Ganz sicher. Egon! Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Heißt überhaupt noch jemand Egon, heutzutage? Ich zermarterte mir den Kopf, komme aber nicht darauf.
Aber natürlich! Wir saßen im Auto, haben Musik gehört. Daniel hat zwischendurch immer wieder einen Witz erzählt, den die Kinder lustig fanden, bei mir aber nicht mehr als ein Zucken meines linken Mundwinkels auslöste. Das ist bei mir immer so. Witze verstehe ich generell nicht. Ich kann damit leben.
Die Mädchen, warum schnattern sie nicht mehr? Die ganze Fahrt über steckten sie die Köpfe zusammen und kicherten. Die Musik hat auch aufgehört. Was haben wir gehört. Ich mochte es, also muss es irgendetwas aus dem Barock gewesen sein. Vielleicht eine Händel-Arie. Ja, ich denke es waren Arien, aber war sang? Eine Frau, ein Mann, Sopran, Alto, Bariton oder Countertenor?
Meine Arme und Beine sind eingefroren. Ich kann mich nicht bewegen, was ist passiert?
Vivaldi, jetzt weiß ich es wieder. Es war die Bass-Arie aus „Tito Manlio“. Se il cor guerriero. Sergio Foresti ist großartig. Jetzt ist es ruhig, ich höre nur mein Herz schlagen, oder ist es gar nicht mein Herz, sondern eine Maschine. Die Augen kann ich auch nicht öffnen. Aber wenigstens kann ich denken. Der Witz? Vielleicht fällt er mir ja gleich ein. Die Mädchen haben gelacht, ich erst nach Melis Erklärungen. Wie immer hatte ich die Pointe überhört oder nicht verstanden. Wie war das denn noch mal. Egal.
Was ist hier passiert und wo ist Daniel? Wo sind Meli und Lissy?
Ich muss mich anstrengen, nachdenken! Wir waren im Auto auf dem Weg …..? Wo wollten wir denn eigentlich hin? Wir sind selten alle vier gleichzeitig im Auto. Daniel oft allein, die Kinder und ich nehmen meist das Fahrrad, nur wenn ich die Mädchen irgendwo abholen oder hinbringen muss und es regnet, nehme ich das Auto. Alle vier im Auto. Vielleicht wollten wir in Urlaub fahren? Aber wir waren doch schon im Urlaub. Oder war das im letzten Jahr. Die Abläufe, sie vermischen sich, laufen in verschiedene Richtungen. Ich kann mich auch gar nicht erinnern, Koffer gepackt zu haben. Meist fahren wir mit dem Zug und mieten dann ein Auto vor Ort. Daniel fährt nicht gerne lange Strecken und ich sowieso nicht. Fliegen tun wir selten, immer weniger. Wir sind umweltbewusst, vor allem Meli. Sie hält Daniel stundenlange Vorträge, immer wenn er einen Flieger nimmt, weil er beruflich schnell irgendwo hinmuss. Beruflich? Was macht Daniel eigentlich und ich? Womit beschäftige ich mich? Vielleicht mit Musik? Fällt mir sicher gleich wieder ein. Ich bin so müde und kann meine Gedanken nicht zusammenhalten. Ich würde gerne die Augen schließen und ein wenig schlafen, aber die Augen sind ja schon zu und trotzdem schlafe ich nicht. Ich habe nie Probleme, einzuschlafen. Daniel, manchmal, wenn er zu viele Sorgen hat. Was könnten das denn für Sorgen sein? Uns geht es gut. Haben wir ein Haus oder eine Wohnung? Sicher eine Wohnung, denn niemand will sich um den Garten kümmern, das weiß ich. Gut, dass ich das weiß. Ich bin so müde. Meinen Arm kann ich nicht heben. Jetzt höre ich Stimmen um mich.
„Sie kommt zu sich, holt schnell Dr. Felenner“, sagt eine Frau. Sie hat eine warme Stimme.
Ich bin also krank. Im Krankenhaus wahrscheinlich. Unfall, hatten wir vielleicht einen Unfall? Kann ich mich deshalb nicht bewegen. Ich will etwas sagen, aber meine Lippen gehorchen mir nicht.
Ich höre eine Männerstimme. Dr. Felenner, er stellt sich vor. Der Witz, ich weiß ihn jetzt wieder. Daniel musste immer wieder lachen, während er ihn erzählte.
„Ein Elefant trampelt durch die Savanne, mitten durch einen Ameisenhaufen. Die Ameisen sind stinksauer auf ihn und beschließen, es ihm heimzuzahlen. Los, wir stürmen ihn, stecht ihn, kratzt ihn, was immer ihr könnt! Ruft beherzt der Ameisenchef und 100 000 Ameisen krabbeln am Elefantenbein hoch bis zum Hals. Der Elefant schüttelt sich und alle fallen nach unten. Nicht aufgeben, ruft die Oberameise und alle krabbeln erneut nach oben. Dieses Mal noch entschlossener. Der Elefant schüttelt sich erneut und wieder landen sie alle auf dem trockenen, roten Boden. Einige sogar verletzt. Der Ameisengeneral ruft nun Verstärkung und dieses Mal krabbeln 200 000 Ameisen das Elefantenbein hoch. Der Dickhäuter schüttelt sich erneut und alle, außer Egon, fallen nach unten. Die Ameisen schicken ihm bewundernde Blicke zu und rufen unisono Egon, würg‘ ihn.“
„Sie lächelt“, sagt der Mann
Der Witz ist doch klar. Ich verstehe gar nicht, warum Meli ihn mir erklären musste, oder verstehe ich ihn jetzt, weil sie ihn mir erklärt hat?
Die Mädchen und Daniel lachten sich die Seele aus dem Leib und ich blickte fragend aus der Wäsche, bis Meli mir erklärte „Egon, Mama, ist eine kleine, rote Ameise, die unmöglich einen Elefanten würgen kann.“ Ich sagte, „Ach so“, tat ihnen den Gefallen und lachte.
„Wir haben sie zurück!“ sagt die warme Stimme der Frau. Sie klingt erleichtert.
Das beruhigt mich und ich spüre, dass ich erneut lächle.
Der Witz ist trotzdem doof, denke ich und schlafe ich ein.
Christa Blenk lebt in Niederbayern und am Atlantik in Frankreich. Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen, ist in unterschiedlichen Anthologien vertreten und hat drei Bände mit eigenen Kurzgeschichten herausgebracht (einer davon ist in französischer Sprache). Sie veröffentlicht regelmäßig Artikel über Kunst und Kultur in dem Berliner Online Magazin KULTURA-EXTRA.
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