Die Birke

Daniela Maria Ziegler für #kkl39 „Hinter der Zeit“





Die Birke

Dass es keine gute Idee war, der Einladung auf Annegrets Geburtstagsparty zu folgen, war vorauszusehen gewesen. Sie ärgerte sich über sich selbst. Gleich zur Begrüßung flüsterte ihr Annegret ins Ohr: „Der Blonde da drüben, der ist nicht verheiratet. Alle anderen sind vergeben.“

Sie hielt es für das Klügste, nicht darauf zu reagieren. Der unverheiratete Blonde hatte einen Schmerbauch und war schon angetrunken, obwohl das Fest noch gar nicht angefangen hatte. Nach einem Glas Kalte Ente war sie gegangen, heimlich und früher als die anderen, und ohne sich zu verabschieden. Als sich am Montagmorgen alle wieder im Büro trafen, war Annegret stinksauer auf sie und meinte vorwurfsvoll:

„Hättest ruhig bleiben können. Harro hätte so gerne mit dir getanzt!“

„Aber ich nicht mit ihm“, antwortete sie.

Der Sommer begann. Weil Schwimmbad, Eiscafé, Strand, die schönsten Wochen des Jahres und die sommerlichen Verheißungen weit, weit weg waren, war im Büro miese Stimmung. Das einzige, was half, war Ignorieren und stures Arbeiten.

„Du hast ja nie Herpes“, sagte Melanie gehässig, die im Waschraum vor dem Spiegel stand und vorsichtig die schmerzende Stelle an ihren Lippen cremte.

„Nein“, sagte sie und verließ den Waschraum.

Als ihr Chef sie dafür lobte, dass sie das 20-seitige Protokoll so schnell abgetippt hatte, meinte Melanie: „Warum so eifrig? Meinste, dass du ihn so rumkriegst? Der Mann ist glücklich verheiratet!“

Warum konnten Annegret und Melanie sie nicht einfach in Ruhe lassen? Noch auf dem Nachhauseweg hatte sie ihre Stimmen im Ohr. Zu Hause kroch sie ins Bett und zog die dünne Sommerdecke über den Kopf, um nichts mehr sehen und hören zu müssen. Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt und war in ihre Phantasiewelten abgetaucht. Da hörte sie deutlich eine Stimme: „Ich habe solchen Durst. Kannst du mir Wasser geben?“

Die Stimme hatte ganz nah geklungen. Sie streifte die Decke ab und sah sich um. Ein leichter Luftzug wehte ins Zimmer. Sie trat auf den Balkon und schaute in den kleinen Vorgarten hinunter. Obwohl es bereits dämmerte, konnte sie erkennen, dass die Birke, die dort unten stand, müde ihre Blätter hängen ließ.

„Ich denke nur an mich und die Quälgeister im Büro, und währenddessen geht die arme Birke ein“, dachte sie beschämt. Am Wasserhahn neben der Kellertür füllte sie Eimer um Eimer. Die Erde am Fuß des Baums war jedoch so trocken, dass das Wasser auf der Oberfläche stehen blieb. Damit es nicht in die Kanalisation floss, musste sie zuerst den harten Boden aufgraben. Das war mühsam und schweißtreibend. Zuerst bohrte sie mit einer Eisenstange, die sie im Keller fand, Löcher, dann vergrößerte sie die Löcher mit der kleinen Gartenschaufel, die sie für ihre Balkonpflanzen angeschafft hatte. Von nun an goss sie die Birke jeden Abend, sobald die Dämmerung gekommen war.  Die Birke hatte sich erholt, und es schien, als würde sie sie manchmal mit ihren feinen Blättern streicheln und mit einer leisen Stimme, die der Wind vor sich hertrug, „danke“ flüstern.

In der Nacht träumte sie: Vor einem unsichtbaren Verfolger floh sie über Felder und Wiesen auf eine Gruppe von Bäumen zu. Als die Bäume schon nahe waren, hörte sie die Stimme ihrer Yogalehrerin: „Versucht, auf einem Bein zu stehen. Macht das Bein stark und standfest. Verwurzelt euch mit dem Fuß fest in der Erde. Lasst euer Rückgrat lang nach oben wachsen. Faltet die Hände vor der Brust und schließt die Augen. Fühlt, wie die Feuchtigkeit der Erde durch eure Wurzeln nach oben steigt und eure Blätter straff und grün werden lässt. Spürt die Wärme der Sonne und wie die Blätter ihr Licht aufnehmen, und wie die Vögel in euren Zweigen hin- und herhüpfen. Seid Bäume.“ Endlich stand sie still und war in Sicherheit.

Wenn sie die Birke gegossen hatte, saß sie auf dem Balkon, schaute in den dunklen Himmel und träumte in die Birkenzweige: Russische Birkenwälder. Schlanke Mädchenbäume. An den S-Bahn-Gleisen begleiten sie dich. Wachsen zwischen den Schwellen. Hartnäckig. Widerstandsfähig. Aber zart und graziös. Aus Birkenrinde kann man Schuhe machen. Oder geheime Botschaften darauf schreiben. Die wehen davon. Wer weiß, wer sie liest …

Von einem Wochenende in Bremen brachte sie aus dem Paula-Modersohn-Becker- Museum ein Plakat mit: „Landstraße mit Birken“ (1901), und hängte es über ihren Arbeitsplatz.

„Ein komisches Bild, da fehlt ja die Hälfte. Woher haste das?“, fragte Melanie.

Sie sagte: „Geschenkt bekommen.“

Das süffisante „Von wem denn?“ überhörte sie und dachte: Betula pendula, Betula verrucosa, Betula pubescens. Brachen und Lichtungen, Heide und Torfmoor. Blüte im April und Mai. Männliche Blüten in hängenden Kätzchen, weibliche kürzer, zur Blütezeit aufrecht. Weiße Rinde, die bei älteren Bäumen rissig wird. Dreieckige bis rautenförmige Blätter, häufig klebrig. Für Tees gegen Blasen- und Nierenleiden, Rheuma, Hautausschläge. Gut fürs Haar. 

Melanie fragte: „Hast du Geheimnisse vor mir? Wir sind doch Freundinnen!“

„Oh nein, das sind wir nicht!“, entgegnete sie.

Als Melanies Exfreund anrief und diese stumme Gesten der Abwehr machte, gab sie ihr den Hörer und sagte: „Klär das gefälligst selber, Melli. Du bist schließlich eine erwachsene Frau.“

Zwar war es schon Jahre her, aber auch sie hatte mal einen Freund gehabt. Eine Zeitlang hatte sie mit ihm über die gleichen Dinge gelacht. Manchmal suchte sie seine alten Briefe heraus und las sie. Sie waren immer noch so lustig, sodass sie jedes Mal wieder lachen musste. Bislang war ihr niemand mehr begegnet, der so war wie er. Nach ihm hatte es keinen anderen gegeben, nicht weil sie keinen anderen mehr hatte reizvoll finden können, nein, weil es immer so viel Mühe kostete, sich verständlich zu machen. Denn nicht nur im Märchen, bei Prüfungen und beim Vorstellungsgespräch musste man Aufgaben lösen und einen Test bestehen, auch in der Liebe. Wenn sie eine Prüfung nicht bestanden hatte, hatte es keine zweite Chance gegeben. Beim Vorstellungsgespräch nicht, und in der Liebe schon gar nicht. Kein zweiter Blick, der aufmerksamer hinsah. Durchgefallen. Nicht bestanden. Der Mann, der sie so angenommen hatte, wie sie war, den hatte sie nur einmal getroffen, und das war lange her.

Der Sommer neigte sich dem Ende zu; es wurde früher dunkel, und die Nächte wurden kühler. Dennoch schlief sie schlecht. Eines Nachts – die Morgendämmerung zog gerade herauf – stand sie auf und ging in den Vorgarten hinunter. Dort lehnte sie ihre Stirn an den Stamm ihrer Birke und flüsterte: „Hilf mir.“ Erstaunt bemerkte sie, dass sie barfuß war. „Dass ich vergessen konnte, meine Schuhe anzuziehen?“

Obwohl sie leicht fror, empfand sie die feuchte Kühle der Erde an ihren Füßen als angenehm, so angenehm, als hätte sie endlich das Element gefunden, in dem sie sich wohl fühlte. Macht euren Fuß stark und fest, saugt euch an die Erde an, verwurzelt euch in der Erde … Sie spreizte ihre Zehen und grub sich langsam, aber lustvoll in die nasse Erde ein.

Durch die Füße drang Feuchtigkeit, durch die Fingerspitzen das Licht der aufgehenden Sonne in sie ein. Wurzeln und Zweige verschränkte sie mit denen ihrer Nachbarin und hielt Zwiesprache mit ihr: Ich bin du. Du bist ich. Meine Zweige, meine Wurzeln in deinen. Weht meine Rinde davon, streift sie deinen Stamm. Unsere Früchte vereinen sich als Medizin, unsere Rinden im Schuh. Küssen wird uns der Wind. Weißt du noch, letztes Jahr, nach diesem heißen Sommer, als du dich verwandelt hast und zu mir kamst – niemand hat es bemerkt …





Daniela Maria Ziegler
Geboren in Heidelberg, promovierte über römische Frauenfrisuren, schreibt seit 1997 Kurz- und Langprosa auf Hochdeutsch (u.a. in Phobi-Almanach, München) und Kurzprosa auf Kurpfälzisch (in: Unser Land, Heidelberg).






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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