Engel sagen niemals Sie

Nora Seeger für #kkl40 „Friedenskultur“




Engel sagen niemals Sie

Sie stellt sich vor, sie läge in einem strahlend weißen Krankenzimmer. Sie meint, dass es ihr in einem solchen Zimmer besser ginge als in ihrem Schlafzimmer mit den dunklen Vorhängen und den ebenso dunklen Möbeln, die wie Mönche in groben Kutten im Schatten stehen und über die Gefühle wachen, die sich in ihrem Inneren kräuseln.

In einem Krankenzimmer wäre alles sauber und geordnet und gut.

Sie stellt sich vor, wie eine Gruppe Ärztinnen zur Morgenvisite erscheint. Sie sind zu viert, die Gesichter leuchtend, die Blicke zutraulich. Mit leisen Schritten nähern sie sich ihrem Bett und während sie auf sie herabsehen, wallen ihre  Haare in der Luft, als wären sie Wassergeister in einem fernen Ozean. Ihre gefalteten Hände schauen nur knapp unter den langen Ärmeln ihrer Kittel hervor.

Sie beten, denkt sie.

Es macht ihr nichts aus, obwohl sie nicht daran glaubt, dass es hilft. Zumindest wenn sie für sich selbst betet, was selten geschieht. Nachts vielleicht, heimlich unter der Bettdecke und immer mit geschlossenen Augen. Es wurde ihr verboten, an etwas zu glauben, das man nicht sehen kann. Sie betrachtet sich daher als Anfängerin, wenn auch als willige. Ganz besonders in ihrer jetzigen Situation, in der nichts schaden aber alles helfen kann.

Die Vier treten noch näher heran, sodass ihre Hände auf der Bettdecke zu liegen kommen, die sich plötzlich wie von Zauberhand ans Fußende rollt.

Mit aufmerksamen Blicken betrachten die Ärztinnen ihre Brust und als sie an sich herabsieht, ist sie überrascht: Etwas Scharfkantiges ragt aus ihrem Herzen hervor. Sie ist nicht sicher, ob es eine große Spiegelscherbe ist oder eine abgebrochene Dolchspitze. Erst jetzt spürt sie den Schmerz, der tief in ihr brennt.

„Was ist das?“, stößt sie hervor. Ihre Arme zucken, in dem Reflex, die Wunde mit den Händen zu bedecken. Aber sie ist wie gelähmt. Sie kann sich nicht rühren.

„Das Leben“, antwortet eine der Ärztinnen – ist sie eventuell die Dienstälteste? die Oberärztin? –, während die anderen gleichzeitig ihre Lippen bewegen.

„Es fühlt sich an wie der Tod“, flüstert sie.

Die Ärztin lächelt: „Das ist das übliche Empfinden aller Lebenden.“ Sie wechselt in einen vertraulichen Ton und sagt: „Sorge dich nicht, das geht vorbei.“

Natürlich sagt sie Du. Engel sagen niemals Sie.

Die Vier nicken einander zu, bevor sie sich über ihrer Brust die Hände reichen. Ein Wind durchfährt sie – und der Schmerz verschwunden. Genauso wie der scharfkantige Gegenstand, der eben noch tief in ihrem Herzen steckte. Der glitzert nun zwischen den Zähnen der vermeintlichen Oberärztin.

„So“, sagt diese, nachdem sie die Stichwaffe in eine auf dem Bett stehende OP-Schale gespuckt hat. „Das wäre geschafft.“ Die drei Helferinnen heben anerkennend die Augenbrauen.

„Und wie geht es weiter?“ Sie setzt sich auf, wundert sich über ihre Unversehrtheit. Selbst das Nachthemd ist blütenweiß wie neu gekauft.

Die Vier, die bereits auf dem Weg zur Tür sind, drehen sich noch einmal zu ihr um. Wieder spricht die Oberärztin – oder der Oberengel?

„Zuerst isst du und danach kehrst du nachhause zurück. Morgen früh wird dir etwas einfallen, das friedlich ist und nach dir klingt.“

„Ach“, sagt sie. „So einfach ist das?“

Die Vier lächeln und eine von ihnen zwinkert ihr sogar zu.

Sie lehnt sich in die Kissen zurück und als die Tür ins Schloss klackt, steht ein Tablett aus Plastik auf ihrem Schoß: Graubrot und Cervelatwurst und ein hartgekochtes Ei. Und dazu eine Tasse lauwarmer Pfefferminztee.




Nora Seeger ist eine im Geheimen wirkende, nicht rauchende sowie hartnäckig Kuh- durch Hafermilch substituierende Autorin, die laut inoffizieller Dokumente irgendwann im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts in der lößbedeckten Hügellandschaft Ostdeutschlands geboren wurde. Aus unerfindlichen Gründen lebt sie seit vielen Jahren in Berlin, einer Stadt, die das Ranking jener Orte anführt, an denen die Menschen häufig zugleich arm, mies gelaunt und inadäquat gekleidet sind. Aller widrigen Umstände zum Trotz erfreut sich Nora Seeger dort bester Gesellschaft.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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