Wiederherstellungsarbeiten

Lena Kurzen für #kkl22 „Bewusstheit“




Wiederherstellungsarbeiten

Noch fünf Minuten und seine Frau ist endlich weg. Johann öffnet seine Pillendose, die Elisabeth jeden Morgen füllt. Er schüttet die drei lachsrosafarbenen Pillen in seine Handfläche und schluckt sie mit Kaffee runter. Elisabeth schließt die Spülmaschine, küsst ihn auf die Wange, geht in den Flur und holt ihren Mantel aus dem Kleiderschrank. „Denkst du an den Termin mit Dr. Stolzenberger heute Nachmittag? Ich hole dich um halb drei ab.“

Johann grummelt etwas und ist schon auf dem Weg nach oben. Er hat keine Zeit für Stolzenberger, die neuen Laborergebnisse, die endlosen Gespräche über die Ergebnisse und ihre Bedeutung. Und schon mal überhaupt gar keine Zeit für das, was die Anderen „gute Nachrichten“ nennen: eine Aussicht auf baldige Genesung. Regeneration, Rehabilitation, Reintegration, er hatte schon Albträume davon.

Auf halber Höhe der Dachbodentreppe wartet er, bis er hört, wie Elisabeth die Haustür hinter sich schließt, der schönste Moment des Tages: die Stille. Kein Klappern aus der Küche, kein Schluffen ihrer Lammfellpantoffeln, keine Fragen, ob er noch mehr Mandarinen- oder Apfelstückchen, Rooibostee mit Honig, Kaffee oder selbstgemachte Haferkekse möchte.

Er schaltet das Licht auf dem Dachboden an und atmet tief ein, er liebt den Dachbodengeruch. Heute muss der Bahnübergang fertig werden, damit er wieder geöffnet werden kann. Seit Beginn der Bauarbeiten ist die Stadt zweigeteilt. Die Kirche ist von der Polizeiwache und dem Rathaus abgeschlossen, der Bauernhof von der Feuerwehr, der Metzger von der Kneipe. Gemessen an der Einwohnerzahl ist seine Stadt immer noch ein Dorf. Erst muss er für eine gute Infrastruktur sorgen und dann für mehr Menschen. Bahnhof und Feuerwache gab es schon lange vor den ersten Wohnhäusern. Johann nennt das verantwortungsvolles Bevölkerungswachstum. Nur ein Krankenhaus hat seine Stadt nicht. Krankenhäuser hat er in letzter Zeit genug gesehen.

Er schaut auf die gestapelten Kisten, in denen er seine Züge jede Nacht staubgeschützt aufbewahrt. Wenn er heute Morgen ungestört weiterarbeiten kann, dann wird der Bahnübergang vor seinem Termin am Nachmittag wieder geöffnet werden.

Er hofft auf schlechte Nachrichten von Stolzenberger. Es muss nichts Lebensbedrohliches sein, nur ein schleppender Verlauf, damit er genug Zeit für ein größeres Projekt hat, vielleicht sogar den Bau einer Bergkette in der rechten hinteren Ecke. Da steht jetzt mitten auf den grünen Wiesen die Schule, die er von seinen Kollegen bekommen hat, nachdem er ein Jahr krank war. Die müsste eigentlich in die Stadt. Das ist ein besserer Ort für eine Schule.

Er hat den neuen Katalog gestern sorgfältig durchgeblättert. Im Hintergrund der Züge sah er wunderschöne Beispiele von Berg- und Hügellandschaften. Ein Projekt für die nächsten Jahre. Er hat letzte Nacht darüber nachgedacht, es hilft gegen die Alpträume. Erst der Rohbau aus Sperrholz und Styropor, mit zwei Tunneln für die Gleise, dann die Modellierung des Reliefs mit Gips – nicht zu vergessen die horizontalen Ebenen für die Berghütten und die Aussichtsplattform. Dann den Gips oben steingrau und unten braun und dunkelgrün streichen. Bevor das Grün trocken ist, die Minigrashalme vorsichtig darüber streuen und zum Schluss den Überschuss wieder mit dem Staubsauger entfernen. Am Ende einen Nadelwald im unteren Teil des Berges pflanzen.

Er setzt die elektrisch bewegbaren Schranken sorgfältig auf die richtigen Stellen. Sein Bahnübergang ist einer der sichersten der Welt. Tag und Nacht sitzt ein kleiner Plastikschrankenwärter in blauer Uniform vor seinem Schrankenwärterhäuschen und blickt auf die Gleise. In seinen schwächeren Momenten zweifelt Johann manchmal, ob er ihm eine Frau geben solle, die neben ihm säße und seine Hand hielte.

Viertel nach zwei. Er hört die Haustür. Elisabeth ist zu früh. Wie immer. „Hallo! Ich bin wieder da. Bist du schon fertig?“ Ihre Stimme erklingt am Fuß der Dachbodentreppe.

Er lässt die Schranken öffnen und wieder schließen, unter den wachsamen Augen des Schrankenwärters fährt der Güterzug langsam vorbei.

Viertel nach drei. Johann versucht etwas in Stolzenbergers Blick zu lesen, sieht aber nur professionelle Ausdruckslosigkeit. Neben ihm sitzt Elisabeth aufrecht auf ihrem Stuhl, als wolle sie jeden Moment aufspringen. Johann weiß, dass er die Laborergebnisse nicht mehr beeinflussen kann, bildet sich aber bessere Chancen ein, wenn er einen Gesichtsausdruck annimmt, der zu dem Ergebnis passt, das er hören möchte.

Stolzenberger beginnt das Gespräch mit Smalltalk und einer Wiederholung dessen, was sie beim letzten Mal besprochen haben.

„Was ist mit den Ergebnissen?“ Er spürt, wie Elisabeths klamme Hand nach seiner tastet.

Stolzenberger blickt für einen Moment auf die geöffnete Patientenakte vor ihm, dann schaut er ihm direkt in die Augen. Johann sieht es sofort. Er sieht eine Bergkette mit Hütten und Wanderwegen, kleine Holzbrücken über Bergbäche. Plötzlich fragt er sich, ob er neue Almkühe kaufen solle oder ob er seine jetzigen Kühe einfach von der Weide ins Hochland bringen könne.

Von weit weg hört er Stolzenbergers Stimme: „… ein langer und schwieriger Verlauf.“

Johann sieht kleine Plastikwanderer, die die Bergziegen von der Aussichtsplattform aus mit Ferngläsern beobachten und sie dann an ihre Kinder weitergeben. Vielleicht sogar ein Sessellift oder eine Seilbahn. „… seien Sie sich darüber bewusst, dass eine vollständige Genesung nicht mehr möglich ist.“

Elisabeths zitternde Stimme: „Sind Sie sich sicher?“ und „Aber er kann doch noch wieder gesund werden.“

Für einen Moment hat Johann eine Vision von einem Flughafen im linken vorderen Teil der Stadt, wo er Platz für ein Wohngebiet gelassen hat. Es ist ein kleiner und übersichtlicher Flughafen, die Bergziegen mögen keinen übermäßigen Fluglärm. Der Zug bringt die Reisenden, hauptsächlich Naturliebhaber, vom Terminal zur Seilbahn, mit der sie dann hoch in die Berge zu ihren hölzernen Hütten fahren. Wenn der Bau der Bergkette und des Flughafens abgeschlossen ist, wird Johann die Jahreszeiten einführen. Die Natur braucht Jahreszeiten. Er freut sich auf den Winter, wenn die Landschaft mit einer dicken Schicht glitzernden Schnees bedeckt ist. Auf dem Kamm öffnet dann eine Langlaufschule und Schneeschieber mit orangefarbenen Blinklichtern halten die Start- und Landebahnen des Flughafens schnee- und eisfrei. Passend zu seiner Uniform trägt der Schrankenwärter Wintermantel, Wollmütze und Handschuhe. Kann er irgendwo Bergziegenlämmer für den Frühling bestellen? Sobald sie zu Hause sind, wird er im Katalog nachsehen.

Elisabeth verstärkt den Griff um seine Hand. „Ich werde mich gut um ihn kümmern. Er ist jetzt schon so lange zu Hause, jeden Tag allein. Ich habe schon auf der Arbeit besprochen, dass ich von zu Hause aus arbeite, wenn es noch länger dauert.“ Sie sieht ihn an. „Dann bin ich jeden Tag für dich da, Schatz.“

Johann stockt der Atem. Seine Bergkette bricht zusammen, die Stadt und der Flughafen verschwinden unter einer Schlammlawine aus in Rooibostee aufgelösten Haferkeksen. Der Schrankenwärter ist unter den Trümmern des Schrankenwärterhäuschens begraben.

Er fühlt sich krank.




Lena Kurzen (1982) kommt aus Ibbenbüren am Rande des Teutoburger Waldes und wohnt seit 2005 in Amsterdam. Lena ist promovierte*r Logiker*in und hat als Projektmanagement Consultant im Schiffbau gearbeitet. Lena schreibt meistens Kurzprosa auf Niederländisch und seit Kurzem auch ab und zu auf Deutsch. Außerdem schreibt Lena gerade an zwei Romanen. www.lenakurzen.nl






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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