“Wein“

S.J. Miro für #kkl24 „Erlauben“




“Wein“


Frustriertes Kribbeln unvollständiger Vermutungen, Träume und Wünsche durchforsteten gewaltsam meine Brust, als ich den bitteren Biss des eleganten Verschwörers zwischen meinen Lippen ruhen schmeckte.
So furchtbar temporär war diese verbotene Beflügelung, aber ich brauchte sie; ich war abhängig.
Die Abwesenheit der Realität, die zu schmerzhaft war, um ihr mit reinem Blut in die Augen zu sehen, das harsche, brennende Licht des Alltags, welchen ich Tag für Tag aufs Neue quälend ausleben musste und die Wahrheit, die sich jede klare Sekunde, welche immer karger wurde, ihre Initialen brutal in meine Gedankenwelt ritzte.

Ich wollte seufzen, als mein Griff mit einer besorgniserregenden Nebensächlichkeit nach dem länglichen, festlich scheinenden Stiel griff, in dessen Kelch das blutrote Gold mit verlockender Häme gemächlich auf meine Kehle wartete.
Die dunkle Verfärbung meiner Lippen verriet einen fragwürdigen Geisteszustand, als das besänftigende Gefühl mich wieder mit einem falschen Willkommen erreichte und meinen Kopf unter der hypnotisierenden Imbalance voller Heiterkeit auf kichern ließ.

Dieser Moment war meine einzige Gesellschaft; wie ein stiller Freund grinste mir das Glas einladend entgegen, als die rote Farbe einen silbernen, königlichen Glanz vom Mond höchstpersönlich geschenkt bekam.
Ein wortloser, dennoch faszinierend lebendiger Augenblick des Austauschs zweier Traumfiguren und ich saß in der ersten Reihe dieses magischen Schauspiels, geblendet von Scheinheiligkeit und schleichender Taubheit, welche meine Gliedmaßen langsam aber sicher überzog.

Etwas zu verlieren war schmerzhaft genug, aber das Wissen, diese bestimmte Wichtigkeit nie wieder zurück erlangen zu können, verwandelte das, ohnehin schon leidende Stechen in eine unmögliche Folter, schadenfroh herbeigeführt von dem Schicksal selbst.
Sein scharfer Dolch war schleppend dabei, mir mein Herz brutal aufzureißen, Schmerzen schon lange zu unaushaltbar.
Dieser konstante Zustand des Leidens verformte mich in etwas fernab eines Menschen und verfluchte mein Sein mit bestialischem Hass.
Mein müder, durchsichtiger Blick reichte hinüber zu dem nächsten Fenster und ertränkte in den silbernen Lügen, als mir die Schwere der Schönheit meinen Körper das Fühlen entzog.

Ich konnte mir gar nicht mehr sicher sein, ob ich das schlanke Gefäß mit meiner schwindenden Kraft erheben konnte, welches immer noch verlockend vor mir auf dem Tisch stand.
Ob ich es voller Not noch an meinen Mund führen konnte.

Verzweifelt spannte sich mein Kiefer an, als mentale Nadeln durch meine Seele jagten, ungewollte Erinnerungen dazu brachten, mich erbarmungslos einzuholen und zu überrennen; das letzte Mal, als unsere Hände uns berührten, die endlos scheinenden Tränen des ungewollten Verstehens und das Wissen, dass nichts mehr so sein würde, wie es zuvor so märchenhaft wunderschön gewesen war.

Ich nahm einen weiteren, großen Schluck des legalen Gifts, als mir durch die Wucht schwindelig wurde und das brennende Gefühl panischer Übelkeit in mir anstieg, was mir prompt dazu brachte, mir gepeinigt eine Hand vor den Mund zu schlagen.
Mein Magen nörgelte, protestierte jedoch nicht. Ermüdet ließ ich meine Hand wieder fallen, die daraufhin an die Seite des Stuhls knallte, auf welchem ich mit eingesackter Körperhaltung saß.
Der Schmerz wagte es nicht, meinen berauschten Geist aufzuwecken, als ich nur das ferne Pochen vernahm, welches jedoch von nichts außer bloßer, gähnender Leere lauthals übertönt wurde.
Ich fühlte mich unmenschlich, wie als hätte jemand einfach so unbarmherzig einen Teil meiner Seele gestohlen, der fehlende Fakt so groß, zu wahr, um es jemals durch irgendeinen erbärmlichen Versuch flicken zu können.

Das Konzept des Verlierens.
Ob Objekt, insignifikant, rein materiell oder einen Menschen, eine Verbindung; eine wahre Liebe. Lodernde Magensäure provozierte lautstark die verletzlichen Gedanken, dämonisch in meiner Kehle umhertanzend.
Sie ließ meine brennende Zunge sich verkrampft an meinen Gaumen pressen.
Was sollte man dann machen, wie sollte man reagieren?
Wie soll man normal weiterleben, wenn zu dem Zeitpunkt das Leben wie gelebt und schmerzvoll verstorben zu sein scheint?
Der Wein lachte mich hell an, verspottete mich gnadenlos für meine finsteren Gedanken und hätte ich ausreichend Kraft in meinen, in sich zerfallenden Körper gehabt, so hätte ich die kummerreiche Gewalt meines Herzens endlich verzweifelt ausdrücken können.
Aber nichts funktionierte; einfach gar nichts.

Immer noch hing mir dieser grässlich liebliche Geruch in der Nase, immer noch konnte ich diese vertraute Hitze auf meiner Haut spürte, wie ich danach langte.
Wie mein ganz persönlicher Schatten der Liebe hingen diese schrecklichen Erinnerungen an meinem emotionalen Sein, zerrten süchtig daran und machten es absolut unmöglich, etwas anderes zu fühlen.

Ein wiederholtes Mal fand mein Griff mein vermeintliches, wohlschmeckendes Ende, als ich wieder diese abhängig machende Temporalität zwischen meinen Lippen verschmelzen vernahm.
Meine Lippen, sachte strichen meine zitternden Finger darüber, Berührung so sanft und vorsichtig wie die grazilen Flügelschläge eines Schmetterlings.
Meine Lippen

Entsetzt keuchte ich auf und schob das Glas abrupt von mir, einige Tropfen der dunklen Flüssigkeit auf dem ebenhölzernen Tisch darunter landend, wo sie augenblicklich stumm in den winzig kleinen Ritzen verschwanden und dort verloren gingen.
Mit panisch pulsierender Brust und einer Horde wildgewordener Pferde in meinen Ohren sah ich dem dramatischen Theaterstück mit weit aufgerissenen Augen zu.
Alles erinnerte mich daran, verdammt; alles.

Die Frustration in mir wuchs unaufhaltsam ins Unendliche, als sich ein riesiges schwarzes Loch in meinem Bauch bildete, was all meine selbstzerstörerischen Gefühle und lebensmüde Gedanken jedoch nicht verschluckte, sondern sie nur ins millionenfache intensivieren lassen zu schien.
Ich hasste es.
Dieses Chaos in mir, was mich animalisch zerfraß, die größte Abneigung in mein Innenleben heraufbeschwor und mich niemals in Frieden lassen würde.
Ich wusste nicht wie, wo oder wann ich diese ganzen Scherben endlich hinter mir lassen konnte.
Sie würden immer bleiben.

Der Knoten in meinem Hals verlangte nach mehr Alkohol, aber mein übrigbleibender Körper schrie einfach nur nach der Vergangenheit, vermisste sie wie ein kleines Kind verzweifelt nach seiner Mutter rief.
Eine Vergangenheit, die niemals wieder so zurückkehren würde, wie sie einst gewesen war.

In einem erbärmlichen Versuch, dieses geistige Leiden von mir zu reißen, knallte meine geballten Faust gewalttätig auf die leblose Oberfläche vor mir, was das elegante Glas augenblicklich dazu brachte, schwach und mit einem unheimlichen Klirren zur Seite umzufallen.
Wort- und fassungslos musste ich dem unerwarteten umspiel dieses tragischen Dramas höchstpersönlich zusehen, als meine künstliche Lebensessenz, genau wie ich, zu etwas unbrauchbarem wurde und sich die Flüssigkeit vor mir ausbreitete wie aus einer Szene eines leidenschaftlichen Mordes.
Der Mund nutzte die Lache als Spiegel, betrachtete sich selbst eingebildet und ignorierte das klare Zerbrechen meiner Seele.
Ich spürte, dass er etwas von mir wollte, aber mein zwiegespaltener Kopf machte es absolut undenkbar, auch nur den winzigsten Vorstellungen anderer aufs Kleinste zu entspringen.

Der Schmerz betrübte, attackierte und tötete förmlich mein ganzes Sein, als blanke Panik in mir entfacht wurde wie ein zerstörerisches Feuer mit unaussprechlichen Absichten.
Was konnte ich nur tun?
Wie konnte ich diese Fatalität des Verlierens erleichtern?
Erschöpft sackte meine, ohnehin schon schwächelnde Körperhaltung in sich zusammen, Schultern gewaltsam in ihre Gelenke einrastend und mein Steißbein mehr als unangenehm das künstliche Holz des Stuhls begrüßend.
Mein schwindender Orientierungssinn versuchte mir gar hinterhältig einzureden, dass sich meine Realität langsam auflöste und ich begann, ihm blind zu glauben.

Meine Fingernägel gruben sich unbewusst in meine Handflächen und ich hoffte insgeheim, wahres Blut über meine Haut pulsieren spüren zu können, nur um ein Sinneserlebnis wahrnehmen zu dürfen, welches nicht so folternd war wie das, was mir bis jetzt unaufhaltsam auf meinen zerbrechlichen Schultern lastete.

Meine Knochen kamen ihrem Ende nahe, als das Loch in meinem Magen wuchs, mir die Kehle vollkommen zuschnürte, mir das Gefühl zu meinen Gliedmaßen verbot und meine Sicht in ein tödliches Rot tauchte.
Wie fatales Nervengift benetzte die Wut, Panik und Lebensmüdigkeit meine Hornhaut, verfluchten meine Sicht zu einem hämischen Tunnelblick, als ich schreckliche Gedanken in meinen Ohren flüstern hörte.
Sie brachten mein Gehirn zum verfaulen, zwangen mich dazu, die Definition von Herzschmerz neu schreiben, der kratzige Stift sich in meine Handflächen bohrend, als ich der komplexen Beschreibung meiner Emotionen mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarren musste.
Wie sich die Splitter in meine Nerven einluden, genüsslich von meinem Blut kosteten und mein ganzes Sein zu einem lodernden, wilden Feuer verformten.
So zerstörerisch brannte es.

Ich wollte einfach nur schreien, aber der zurück gebliebene, bittere Geschmack verfliegender Schönheit war klebrig zwischen meinen Lippen und verhinderte jede Aktion dieser.
Es brannte immer mehr, jeder Zentimeter meines Körpers, als die grauenhafte Insektenschar an Leiden über meine Organe rauschte, langsam heimtückisch nah oben kroch, vollkommene Taubheit hinterließ.
Letztendlich sammelte es sich in meinem Gesicht, meine Züge unbeschreiblich unter den Schmerzen meiner eigenen Fehler; meines Schicksals.
Immer und immer weiter fiel ich in dieses Loch und konnte nicht mehr vor Panik schreien.
Es brannte so sehr.

Etwas rollte über meine kochend heiße Wange.
Alles stoppte augenblicklich.
Wie eine Explosion von Stille hallte es durch mich, als jeder Schmerz aufmerksam verstummte.
Sogar der Mond hielt die Luft an, silberne Augen sich erwartungsvoll in meine Wirbelsäule bohrend. Meine Sicht war verschwommen, ich konnte kaum noch das verschwindende, rote Funkeln unter mir vernehmen, als mir ein Tropfen des umgefallenen Weinglases vermeintlich von dem Tisch auf die Finger fiel.
Wieder spürte ich etwas an meiner Wange und noch etwas anderes landete auf meiner Hand, die mehr der einer Statur ähnelten; so reglos lag sie da.

Langsam und schwerfällig wandte ich meinen Blick zitternd nach unten, als die Finsternis sich mit einer tröstenden Umarmung um mich wickelte und der Mond respektvoll hinter dichten Wolken verschwand.
Als die letzten Tropfen des roten Trunks endgültig im oder unter dem Tisch versickerten, erblickte ich durchsichtige Flüssigkeit.
Beinahe unaufhaltsam floss sie von mir, benetzte meine Haut.

Ein kräftiger Schluchzer durchschüttelte mich, als die Erkenntnis dieses erleichternden Faktes endlich meinen vernebelten Geist erreichte.
Das war dieses Feuer gewesen; all dieser Schmerz.
Ich ließ es zu, voll und ganz.
Ich gab mich meinem Körper hin, brach nach vorne hinüber und musste mich gezwungenermaßen an meinen Oberschenkeln abstützen, als es meine physische Stärke unter den krampfartigen Impulsen nicht mehr schaffte, meine Wirbelsäule aufrecht zu erhalten.

Immer mehr Tränen entkamen meinen brennenden Augen und obwohl ich nichts sehen konnte und mein Herz in dem salzigen Tau verzweifelt ertrank, so spürte ich, wie er meine Seele reinigte.
Mit sachten Berührungen und familiärer Wohligkeit rollten die warmen Emotionen aus mir heraus, stopften das Loch in meinem Magen voll Wasser, erdeten mich zurück in den Grund der Realität und gossen mich großzügig.
Dann begann ich, Wurzeln zu schlagen, ohne mir über dem im Klaren zu sein.

Endlich, wein‘, endlich, las ich in dem schwindenden, glänzenden Mondlicht des Beschützers der Sterne, als ich mir meinen Kopf hielt.
Ich konnte endlich atmen.
Wie als wenn all das angestaute, schmutzige, verpestete Suff an Wasser letztendlich von mir gelöst wurde und mich verließ.
Ich hatte wieder die Hoffnung, leben zu dürfen oder gar; leben zu können.




S.J. Miro, 19 Jahre alt, schreibt Kurzgeschichten






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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