Die Welt hinter den Fenstern

Paulina Gluth für #kkl28 „Dahinter“




Die Welt hinter den Fenstern

Ich steige schon wieder am Klosterstern aus. Es ist das dritte Mal in dieser Woche. Einmal links, dann noch einmal rechts abbiegen – dort an der Straßenecke wohnst du, im ersten Stock des hellgrauen 70er-Jahre Baus. Die rechten drei Fenster gehören zu deiner Wohnung, das weiß ich mittlerweile ganz sicher. Dahinter beginnt deine Welt, die sich bereits ganz klar in meiner Vorstellung manifestiert hat.

Physisch gesehen stehe ich nur auf der anderen Straßenseite und starre gegen diese Fenster. In meinen Gedanken betrete ich jedoch längst dein Wohngebäude durch die schwere Eingangstür mit dem rostigen Schloss. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich sie geöffnet habe und steige die Treppe hinauf. Allein diese Vorstellung sorgt dafür, dass mein Herz ganz laut klopft. Ich öffne die Wohnungstür und trete ein.

Die Wohnung ist natürlich wunderschön eingerichtet, denn jeder Raum spiegelt dich mit seiner Ästhetik wider. Im Flur steht ein breites Schuhregal aus mattem Holz. Darin befinden sich unzählige Paare deiner eleganten schwarzen Schuhe. Auf dem Regal steht eine kleine goldene Schale für Schlüssel, Coupons und Notizzettel, sowie weitere Kleinigkeiten, die sich im Laufe des Lebens ansammeln. Aus irgendeinem Grund riecht es in meiner Vorstellung nach Lavendel. Der Duft ist kaum wahrnehmbar und doch zieht er sich ganz subtil durch die Zimmerchen der kleinen Wohnung mit den hohen Decken.

Geradeaus geht es ins Bad, es ist klein und unspektakulär. Ein kleiner Schrank, Waschbecken, Toilette, Dusche… Die Handtücher und ein kleiner Teppich sind in einem grau-blau gehalten, ganz normal eben. Hier stehen ein paar Sukkulenten und Waschutensilien. Da dieser Raum nicht viel über dich aussagt, gehe ich in Gedanken bereits weiter.

Vom Flur aus rechts gesehen geht es in die Küche. Sie ist winzig klein, gemeinsam hätten wir wohl kaum Platz zum Kochen. Seit Jahrzehnten stehen hier schon die gleichen Möbel und die Wände sind mit hässlichen ockerfarbenen Kacheln mit Blumenmustern gefliest. Die Ablagen sind mit buntem Geschirr, Gewürzen und Kräutern fast komplett vollgestellt und in der Spüle steht noch deine italienische Espressokanne vom Frühstück, ein morgendliches Ritual von dir.

In allen Räumen stehen Pflanzen, darunter Sukkulenten, Grünlilien, bunte Schnittblumen und natürlich Orchideen. In deinem Büro auf der Arbeit stehen glaube ich fünf oder sechs Orchideenpflanzen, weshalb ich annehme, dass du auch welche Zuhause hast. Ich habe auf der Arbeit schon oft beobachtet, wie du sie ganz genau betrachtest und dich ganz nah zu ihnen beugst.

Der größte Raum deiner Wohnung ist der einzige, den ich von hier draußen sehen kann. Es muss sich um eine Mischung aus Schlaf-, Wohn- und Esszimmer handeln. Mit der Zeit habe ich schon alle möglichen Positionen hier auf der Straße ausprobiert. Wenn man in einem bestimmten Winkel in das mittlere Fenster hineinschaut, kann man an der kobaltblauen Hinterwand des Zimmers ein großes Bücherregal erkennen. Es sieht alt aus, ist aus dunklem Holz geschnitzt und mit Büchern überladen. Welche Bücher wohl dort stehen? Auch darüber mache ich oft Gedanken. Liest du gerne Thriller? Wie gerne würde ich dir von dem Buch erzählen, welches ich zuletzt gelesen habe! Du würdest es lieben, da bin ich mir sicher. An der rechten Wand kann ich eine beigefarbene Couch erkennen. Ich kann es nicht genau erkennen, aber darauf liegen ein paar bunte Sachen. Kissen? Meine Vorstellungskraft ist hier beschränkt, da ich ja tatsächlich ein paar Dinge erkennen kann. Steht dort im Raum noch ein runder Esstisch? Weitere Holzregale voller Porzellan und Gerümpel? Wo steht dein Bett? Hängen da an der Wand auch irgendwo Bilder? Was sind das für Bilder? Sind das einfach Kunstdrucke, die du ausgesucht hast, um das Zimmer wohnlicher zu machen? Ich bin irgendwie davon überzeugt, dass alle Gegenstände, die du besitzt, eine Bedeutung für dich haben. Du hast sie mit Bedacht und Liebe ausgesucht.

Werde ich das je erfahren? Auch wenn ich mit alldem vielleicht nicht ansatzweise richtig liege, geben mir diese Gedankenreisen trotzdem das Gefühl, ein Teil deines Lebens zu sein. Bei meiner Reise in deine Welt sehe ich mich, wie ich mir eines der zerlesenen Bücher ausleihe, dir Tee in den bemalten Porzellantassen serviere oder einfach mit dir auf der alten Couch sitze und deine Hand ganz fest halte. In der kleinen Küche würden wir gemeinsam kochen und uns dabei ständig auf die Füße treten. Die mal mehr und mal weniger gelungenen experimentellen Gerichte würden wir anschließend an dem runden Esstisch genießen. Auf der Couch würden wir so unglaublich viel zusammen lachen, über unlogische Dialoge deiner Lieblingsfilme reden und einander die Schmerzen des Alltagstrotts nehmen.

Ich sehe das alles vor mir, bis ein Passant an mir vorbeikommt und mich wieder in die physische Welt, die Welt vor deinem Gebäude zurückholt. Natürlich hast du keines deiner Bücher mit der Intention gekauft, es mir auszuleihen, oder dir auch nur jemals vorgestellt, mit mir auf deinem Sofa ein paar schöne Abendstunden zu verbringen. Die Welt hinter den Fenstern hast du allein für dich erschaffen, rational weiß ich das.  Ich kann nur weiterhin hier draußen stehen und von dir, deiner Welt und uns träumen. Würdest du mich erkennen, wenn du jetzt aus dem Fenster schauen würdest?





Paulina Gluth möchte besser verstehen, was andere Menschen bewegt. Besonders möchte sie dabei Personen bzw. Charaktere beleuchten, die anders leben, mit anderen Dingen konfrontiert werden und sich über andere Dinge freuen, wie auch ärgern, als sie es vielleicht selbst tun würde. Zu Hause fühlt sie sich meistens in München.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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