SCHICHT UM SCHICHT

Katharina Wulkow für #kkl28 „Dahinter“




SCHICHT UM SCHICHT

In den Anzug steigt sie immer frisch geduscht. Frei geduscht von den anderen und der Stadt, von den Berührungen und dem Lärm.

Leicht ist sie danach.

Tumult und Schmutz, Worte und Begegnungen, ja selbst blinkende Lichter und hupende Autos, die wiegen eine ganze Menge. Schicht um Schicht legt sich auf den Körper, über den Tag verteilt kommt da ganz schön was zusammen.

Deshalb muss sie duschen, jeden Abend. Sie wird sonst zu schwer, sie trägt sonst zu viel, unter ihr könnte der Boden einreißen und sie würde ein Apartment tiefer fallen.

Also stellt sie sich unter fließendes Wasser, jeden Abend. Und außerdem, bevor sie in den Anzug steigt. Sicher ist sicher – es soll sauber bleiben in ihm drin.

Gekauft hat sie ihn letztes Jahr, kurz vor Halloween, in einem dieser Läden, die alles anbieten, um die eigene Wohnung in ein Geisterschloss zu verwandeln. Zwischen künstlichen Spinnweben, grinsenden Plastikkürbissen und diesen Soundboxen, aus denen auf Knopfdruck wahlweise Türknarren, kehliges Stöhnen oder Schreie à la PSYCHO erklingen, hing er und wartete.

Sie sieht die Verkäuferin noch vor sich, wie sie ein Kostüm mit dem Namen „Sexy Vampire“ vom Kleiderständer nimmt und in die Luft hält. „Das wäre doch was für Sie.“

Kopfschüttelnd hat sie sich damals von der Frau abgewandt, den Anzug vom Bügel befreit und ihn über den Arm gelegt. Er war schwer, beruhigend schwer. „Wo ist der Helm dazu?“

Zu Hause hat sie ihn sorgfältig von Hand gewaschen und den Helm poliert. Hat sich am Abend der Party lange unter die Dusche gestellt, die Welt von der Haut gespült und ist hineingeschlüpft.

Da hat sie es zum ersten Mal gespürt.

Genauer gesagt, als sie aus dem Taxi stieg, den Helm aufsetzte, das verspiegelte Visier herunterklappte, die viel zu großen Handschuhe überzog und die Wohnung betrat, die vor lauter Menschen und Bass pulsierte.

Sie war da und sie war es nicht.

Natürlich musste sie schon nach wenigen Minuten das Visier hochklappen, um zu zeigen, wer darunter steckt, und irgendwann den Helm abnehmen, weil es zu stickig darin wurde. Die wenigen Minuten davor jedoch, die fühlten sich an wie durch einen Traum zu spazieren. Mittendrin im Getümmel aus lachenden Gesichtern, betrunkenen Blicken und schwitzenden Körpern. Außen vor durch die Schicht des Anzugs, die dicke Plastikverkleidung des Helms. Gerüche drangen nicht zu ihr durch, Worte erreichten sie nur gedämpft, Berührungen perlten ab an dem glatten weißen Stoff.

In diesen wenigen Minuten, im Schutz des abgedunkelten Visiers, sah sie die anderen stechend scharf. Die Einsamkeit hinter dem Lächeln, die Wut hinter dem Suff, die Freude über einen flüchtigen Kuss, der vielleicht mehr bedeuten könnte.

Noch stärker aber war das Gefühl der Schwerelosigkeit. Gut möglich, dass der Kopf ihr Streiche spielte, dass sie sich zu sehr mit ihrem Kostüm identifizierte.

Vollkommen egal.

Denn sie spürte ihre Füße kaum den Boden berühren, glitt durch den Raum wie durchs All.

Niemandem schuldete sie ein Lächeln.

Niemand kannte ihr Gesicht.

Mit dem Abnehmen des Kopfschutzes sank sie zurück auf die Erde. Schicht um Schicht legte sich auf ihr Gesicht, auf die mittlerweile ebenfalls entblößten Hände, die in den wuchtigen Handschuhen bereits zwei Gläser vom Tisch gefegt hatten.

Bis zu diesem Abend war ihr nie bewusst gewesen, wie schwer es wiegt, all das Aufregende, Langweilige, Unsichere, wie sie sich auf der Haut absetzen, all die Laute, die Stimmungen, die Menschen erzeugen. Der Anzug machte es leichter. Ein weißer Panzer zwischen ihr und dem Rest.

Später, im Taxi, lehnte sie den Kopf an die Scheibe. Draußen flogen die Lichter der Flatbush Avenue vorbei wie Hunderte bunter Sternschnuppen.

In ihr war alles ruhig.

Seitdem steigt sie in den Anzug, sobald sie eine Pause braucht. Wenn sie das Leben spüren will, ohne daran teilnehmen zu müssen.

Niemand weiß, dass sie es ist, die als Astronautin verkleidet durch New Yorks Straßen spaziert. Über die kleine Artikel im Netz erschienen sind.

Ab und zu rufen ihr Kinder hinterher und winken, in den Augen die Frage, ob sie vom Himmel gefallen sei. Ein paar Erwachsene tun es ihnen gleich, die meisten jedoch mustern sie von oben bis unten und hetzen an ihr vorbei. Wenn sie überhaupt einen Gedanken für die Person unter dem Anzug übrig haben, dann wohl den, dass sie verrückt sei.




„Ich heiße Katharina Wulkow, bin 1984 in Wolgast geboren und lebe in München, wo ich als Assistentin in der Rechtsabteilung eines Medienunternehmens arbeite. Zu meinen bisherigen Veröffentlichungen gehören diverse Kurzgeschichten und Gedichte in Anthologien und Literaturzeitschriften, u.a. in entwürfeDreckSackmosaikmischen und MAULhURE. Zuletzt auch in englischer Übersetzung in No Man’s Land – New German Literature in English Translation.








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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