Rebekka Tünker für #kkl28 „Dahinter“
Antworten
»Hast du schon mal durch eine Glaswand geschaut?«, fragte Donna mit dem Gesicht zur blassgelben Nachmittagssonne gewandt. Mikesch wusste intuitiv, dass es sich um eine dieser Fragen handelte, auf die Donna bereits die perfekte Antwort kannte.
Überhaupt hatte Donna immer schon mindestens sechs Antworten parat, bevor sie eine Frage stellte. Ungefähr die Hälfte davon war sogar ganz brauchbar, manchmal beinahe lebenspraktisch.
Mikeschs Talent bestand im Zuhören und Aussortieren. Über einen Zeitraum von immerhin fünf Jahren hatte er gelernt, dass es sich lohnte, Donna zuzuhören … allein schon, weil sie bereits den Anschein von Unaufmerksamkeit mit eisigem Schweigen bestrafte. Einen Tag ohne ihre ständigen Weisheiten hielt Mikesch gut aus. Doch wenn aus einem Tag eine Woche wurde, kehrte sich der Segen der schweigenden Donna in einen bösen Fluch um. Aus genau diesem Grund vermied Mikesch jeglichen Affront gewissenhaft. Zumindest so gewissenhaft, wie er in Donnas Präsenz eben sein konnte.
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«, fauchte etwas von der Seite in sein Ohr.
»Aber natürlich, meine Liebe«, schnurrte er mit seiner wärmsten Stimmfarbe vom Band. Beinahe hätte es auch ehrlich geklungen, aber eben nur beinahe.
»Du kannst mich mal!«, zischte es durch die Luft. Donna sprang mit einem anmutigen Satz von der zwei Meter hohen Mauer, auf der sie bis gerade eben noch in stiller Zwietracht gesessen und den faden Kaffee vom Bäcker an der Kreuzung genossen hatten.
Das letzte Drittel von Donnas Kaffee zierte nun sein Hemd. Die Hitze schmerzte im Vergleich zu ihrer schneidenden Verachtung nicht wirklich.
»Warte!«, rief er ihr im Sprung nach, was bei Donna selbstverständlich zu einer rasanten Beschleunigung führte. Darin lag seine Chance.
Fünf Häuserblocks weiter blieb sie stehen und stützte sich auf ihren Knien ab. Setzen konnte man sich hier nirgends, ohne mit Kippen, Kaugummis, aufgeplatzten Joghurtbechern, Speichel oder Hundepisse Vorlieb zu nehmen. Wie lange hatte er schon vorgehabt, aus diesem Drecksloch wegzuziehen? Freilich länger als er Donna kannte.
Er verlangsamte seine Schritte, schlenderte die letzten Meter, was seinem ewig gestrigen Outfit aus Lederjacke und Jeans besser stand. Betont lässig fuhr er sich durch die gelverklebten Haare. Donna war sichtlich darum bemüht, ihre Erschöpfung zu verbergen. Sie schob die Unterlippe vor und stützte beide Hände in die Hüften.
»Ich hätte mir einen zweiten Kaffee bestellen sollen. Dann hätte ich noch etwas für deine Visage übrig gehabt.«
Er wartete seelenruhig, kramte nach einem Fisherman’s, fand jedoch nur alte Kassenzettel. »Spar dir die 1,70 für eine bessere Gelegenheit und erzähl mir, was du vorhin mit der Glaswand gemeint hast«, meinte er mit versöhnlichem Sarkasmus.
Verstohlen betrachtete er sie von der Seite. Zweifelsohne war sie eine melodramatische Zicke, doch in den Momenten, auf die es ankam – in denen man sich entschied, zu gehen oder zu bleiben – entwickelte sie eine unheimliche Anziehung.
Sie atmete hörbar, als wäre jeder Satz, den sie mit ihm teilen musste, eine Zumutung. »Wenn du es noch nie getan hast, kannst du es auch nicht wissen.«
»Wenn ich was nicht-?«
»Wenn du noch nie durch eine Glaswand geschaut hast, weißt du nicht, was dahinter liegt.« Sie schürzte die Lippen, als ob sie ihm eben eine hochgeheime Staatsaffäre oder die Weltformel verraten hätte.
»Irgendwie einleuchtend«, antwortete er mit einem Hauch von Geringschätzung. »Willst du dir nicht doch noch einen Kaffee holen? Ich brauche jedenfalls ’ne neue Packung Fisherman’s.« Zielstrebig steuerte er die andere Straßenseite an, wo ein Kiosk mit flackernder Leuchtreklame lockte. Im trüben Schein der Nachmittagssonne schien sie eher kläglich als einladend.
»NEIN!«, klingelte es in seinen Ohren. Das nächste, was er wahrnahm, waren ihre Fingernägel, die sich genau dort in seine Schulter gruben, wo die grobe Lederjacke endete und der dünne Stoff seines T-Shirts begann.
Donna war groß, ihre Kraft nicht zu unterschätzen. Als sie ihn zu sich herumriss, glaubte er für einen Moment, sie hätte seine Schulter ausgekugelt.
»Vergiss deine beschissenen Fisherman’s. Ich muss dir was zeigen!« In ihrem Ausdruck lagen zu gleichen Teilen eine Drohung und beinahe kindliche Begeisterung. Mikesch suchte darin etwas Nachgiebiges, irgendeinen Angriffspunkt. Als er ihre tiefschwarzen Augen traf, wusste er wieder, dass er niemals eine Wahl, geschweige denn eine Chance gehabt hatte.
Unwillkürlich zuckte er zusammen und lächelte aus einem automatischen Impuls heraus. Es war ein offenes, aufrichtiges Lächeln, völlig deplatziert in dieser verdrehten Situation, die sich vor viel zu langer Zeit zu einem Dauerzustand entwickelt hatte.
Widerstrebend folgte er dem Zug an seinem Arm. Seine Füße gehorchten schon so lange einem fremden Kopf, warum nicht heute ein letztes Mal nachgeben? Es war so leicht, so gewohnt, so vertraut. Morgen war auch noch ein Tag. Morgen konnte er wieder die Regie übernehmen, gehen, wohin er wollte, oder zumindest glauben, dass er etwas Eigenes wollte, während er vermutlich wieder damit beschäftigt wäre, dahin zu gehen, wo Donna war oder dorthin, wo sie gerade nicht war. Egal, wohin er sich bewegte, es hätte immer etwas mit Donna zu tun.
»Jetzt komm schon! Bald ist es zu dunkel«, trieb sie ihn an und sogar ihre Stimme klang trotz des drängenden Untertons wie die eines Kindes kurz vor Weihnachten.
Nach einem weiteren Kilometer blieb Donna so abrupt stehen, dass er sie beinahe über den Haufen gerannt hätte. »Hier ist es«, meinte sie verschwörerisch.
Vor ihnen erhob sich einer dieser trostlosen Glasbauten, an deren Eingang Tag für Tag Menschen ihre Seele abgaben, um im Inneren irgendeine nutzlose, aber bestimmt lukrative Arbeit zu verrichten. Mikesch rätselte, wie viele Seelen diese Hochglanz-Hölle wohl beherbergen konnte. Die Zahl bewegte sich außerhalb seines Fassungsvermögens. Ebenso unbegreiflich war ihm, wie sich diese Hölle Abend für Abend unter den langen Strahlen der sinkenden Sonne in den stimmungsvollsten Ort der Stadt verwandeln konnte.
»Perfekt!«, rief Donna aus und das Strahlen auf ihrem Gesicht schien heller als jede Sonne, die sich Mikesch vorstellen konnte. »Bleib hier stehen«, ordnete sie an und positionierte ihn etwas abseits von dem gigantischen Eingang. Er verharrte reglos.
Donna tänzelte so selbstverständlich durch das Portal, als würde sie zu dem Gebäude gehören wie Popcorn zum Horrorfilm. Die Scheiben reflektierten stark, waren jedoch nicht vollkommen verspiegelt, sodass er ihre Silhouette ungefähr ausmachen konnte. Sie schritt vom Eingang weg, bis sie sich genau auf seiner Höhe befand.
Sie legte eine Hand auf das Glas, als wollte sie ihn überzeugen, dass sie wirklich da war. Er tat es ihr gleich, bis sie ihre wieder wegzog. Schweigend betrachtete er ihre Umrisse, die sich mit seinem Spiegelbild mischten, jedoch nicht perfekt aufeinander lagen. Das gemeinsame Antlitz hatte einen zu großen Mund, zwei Nasen und vier Augen.
Der Mund schien hin und her gerissen zu sein. Einerseits grinste er, andererseits hingen seine Winkel ausdruckslos herab. Er versuchte das Bild anzupassen, zwang sich zu einem weiteren Lächeln. Nun sah das Antlitz aus wie der Joker.
Besser als nichts, dachte er sich und ließ das Lächeln auf seinem Gesicht erstarren. Dann drückte er ein Auge zu. Donna folgte seinem Beispiel nicht. Er bewegte sich so, dass die Bilder exakt aufeinander lagen, starrte in ein klares und ein trübes Auge. Als nächstes hob er die linke Hand, als ob er vor sich selbst salutieren wollte. Da wuchs dem Joker ein dritter Arm.
Die andere Hand legte einen Zeigefinger auf den Mund, als ob sie Stillschweigen anordnete. Vier Arme krümmten sich nun an seinem Torso.
Was er sah, gefiel ihm. Vier Arme, damit könnte man einen Kaffee halten, ein Fisherman’s suchen und die Hände in die Hüften stemmen. Alles gleichzeitig. Jetzt brauchte er nur noch vier Füße. Zwei, die Donnas Befehlen gehorchten, zwei, die mit ihm zum Kiosk gingen. Er lachte noch breiter über die Ironie der Situation, die Ironie seines Schicksals und des Schicksals der Menschen, die hier täglich ein und aus gingen, nicht wissend, wie einfach man an ein paar neue Arme kam.
Er lachte aus vollem Halse, während die letzten arglosen Bürokraten das Gebäude verließen, sich einmal irritiert nach dem Verrückten hinter der Scheibe umsahen, bevor sie ihren Gang zum Parkhaus fortsetzten.
Er lachte auch noch, als es dunkelte, denn die Straßenlaternen sprangen exakt in dem Moment an, als seine Arme, das Grinsen und das trübe Auge zu verschwinden drohten. Selbst, als eine Polizeistreife vorbeifuhr, lachte er immer noch und konnte sich einfach nicht genug amüsieren über seine absurde Gestalt. Insgeheim wunderte er sich, dass Donna es solange auf der anderen Seite aushielt, doch er sagte nichts, um den Moment nicht zu zerstören … ihren ersten gemeinsamen Moment in solcher Eintracht.
Als der Wachdienst ihn schließlich doch erwischte, kam er aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus. Denn nun würde nicht nur er sich erklären müssen, sondern auch Donna, die wortreiche Donna, die immer eine altkluge Antwort parat hatte. Vielleicht war endlich der Moment gekommen, in dem ihr die Antworten ausgingen. Wie lange hatte er darauf gewartet? Sie schleppten ihn in ein relativ kleines Zimmer, vielleicht einen Konferenzraum. Eigentlich konnten sie ihm gar nichts. Er hatte ja keinen Hausfriedensbruch begangen. Donna war diejenige, die sich unerlaubt Zutritt zum Gebäude verschafft hatte.
»Haben sie sie in einen anderen Raum gesteckt?«, fragte er rundheraus. Er wollte doch unbedingt ihr verblüfftes Gesicht sehen, einmal Ratlosigkeit auf der glatten Marmorwand erkennen. »Wie meinen?«, fragte der Kleine mit den riesigen Augenringen.
»Na, die Frau auf der anderen Seite der Scheibe. Wo haben sie sie untergebracht?« Er grinste, um den Kleinen freundlich zu stimmen.
»Hast du eine Frau im Foyer gesehen, hinter der Glasfront?«, raunte der Kleine seinem Pitbull-Kollegen zu. Dieser straffte die massigen Schultern und sah den Winzling mit einer Mischung aus Argwohn und Mitleid an.
»Du solltest dich mal ausschlafen und die Finger vom Koks lassen, Tobi. Da war niemand hinter der Scheibe.«
Rebekka Tünker
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