Verloren?

Udo Brückmann für #kkl28 „Dahinter“




Verloren?

»Eine Garantie gibt es leider nicht«, erklärte Professor Allfeld seinem Patienten, dessen Kopf mit kabellosen Leuchtelektroden – in Korrespondenz zu einer Vielzahl von Messgeräten – übersät war. Er lag auf dem Rücken vor einer kreisrunden Öffnung auf einer beweglichen, metallenen Bank, fixiert an Armen und Beinen. »Sind Sie bereit?«

Markus Urban nickte, Schweißperlen rannen ihm von der Stirn die Wangen hinunter. Der junge Mann war sich den Risiken bewusst, doch der kleinste Funken Hoffnung stellte aufkommende Zweifel in den Schatten.

Drei medizinische Mitarbeiter des Berliner Labors gaben jetzt grünes Licht für die Durchführung der neuartigen Behandlung. Konzentrierte Aufmerksamkeit beherrschte den sterilen Raum.

Der Professor lächelte matt. »Entspannen Sie sich, Herr Urban. Wir werden Ihre DNA als Speichermedium überwachen und Ihren Geist während der Bestrahlung auf eine Reise schicken. Eine Stunde lang. Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie in die Geschehnisse nicht eingreifen können. Halten Sie die Augen geschlossen.«

Bevor der junge Mann mit »Alles klar« darauf antworten konnte, war er mit einem surrenden Geräusch in der runden Röhre verschwunden, die seinen Körper nun hermetisch umschloss. Es war ein Körper, den Markus Urban bald nicht mehr spürte: Materie, die auf der metallenen Bank zurückblieb, getrennt durch eine flimmernde Wand aus gleißend hellem Licht, das sich zu einer großen, weißen Wolke formierte.

Der junge Mann schwebte scheinbar über seiner Heimatstadt mit all den Häusern, Türmen, Straßenschluchten, Plätzen und Parkanlagen. Unzählige Autos formten sich zu Schlangen auf langen Straßen oder wetteiferten um die wenigen freien Parkplätze. Eingänge, die in den Untergrund führten, deuteten auf ein pulsierendes Netzwerk aus unermüdlich vorbei stürzenden U-Bahnen im Minutentakt.

In diesem Netzwerk kannte Markus Urban sich aus und so verwandelte sich sein losgelöster Geist in einen unsichtbaren Beobachter. Es war nicht einfach, sich auf einzelne Personen zu fokussieren, denn Massen von Menschen schwappten unablässig in die Neon beleuchteten Schächte hinein und wieder hinaus, als würde die Realität in den Momenten dazwischen die Luft anhalten. Unvorstellbar, dass jeder dabei einem persönlichen Ziel folgte, um von A nach B zu gelangen. Schicksale, die sich zwangsläufig begegneten, waren in der Masse kaum greifbar.

Markus Urban konzentrierte sich auf ein hübsches Mädchen, das durch ihr zartes Wesen aus der drängelnden Menge am Bahnsteig hervorstach. Der junge Mann beobachtete, wie sie auf einen Sitzplatz zusteuerte, diesen aber einer älteren Dame anbot, die wiederum von einem aggressiven Jugendlichen angerempelt und als »Friedhofsfutter« beschimpft wurde. Andere Fahrgäste blickten kurz auf und tauchten sofort wieder ab in die virtuellen Welten ihrer Notebooks und Smartphones. Sie suchten dort Schutz, um ihre Angst zu verbergen. Atmen auf Sparflamme unterhalb der Erdoberfläche bis zum nächsten befreienden Bahnhof. Der junge Mann wusste, dass viele einzelne Schicksale bald wieder mit der Menge verschmelzen würden. Urban entschied sich als Beobachter dafür, die quietschende U-Bahn wieder zu verlassen. Stattdessen fand er sich vor einem Krankenhaus auf einem großen und belebten Platz wieder.

Ein weiß geschminkter Straßen-Clown trieb Späße mit umher stehenden Kindern und deren Eltern. Er führte voller Inbrunst kleine Zauberkunststücke vor, zog einem verblüfften Kind eine Kette aus bunten Tüchern aus einer Jackentasche  und schenkte einem anderen ein lustiges Ballon-Tier. Der Clown war dankbar für das fröhliche Lachen der Kinder und andererseits erleichtert darüber, sich hinter einer selbstgeschaffenen Maske verbergen zu können.

Im gleichen Augenblick wurde im Kreißsaal des angrenzenden Krankenhauses ein Baby geboren, das seinen Weg noch gar nicht kannte. Die erschöpfte Mutter nahm ihr Kind, das buchstäblich nach Leben schreite, glücklich in die Arme.

Tief berührt setzte Urban seine körperlose Reise fort, als befände er sich wieder auf der hellen, weißen Wolke. Die Balkontür einer Penthouse-Wohnung im siebten Stock stand offen. Ein nobel gekleideter Mann mittleren Alters – versunken in Verzweiflung – war in Tränen aufgelöst. Zitternd fasste er den Entschluss, seinem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen. Tagelanges Warten auf den erlösenden Anruf hatte ihn zermürbt. Die letzte Möglichkeit, die immensen Schulden tilgen zu können, lief gegen Null. Urban wich entsetzt zurück. Was sollte er tun? Er war nur als Beobachter unterwegs. Der Mann in dem maßgeschneiderten Anzug zog eine Schlinge um seinen Hals und strangulierte sich daraufhin auf einem Stuhl. Kurz danach klingelte das Telefon…

Markus Urban erschauderte und ließ seinen Geist wieder über die Silhouette der Stadt gleiten. Unten in einer Straße beobachtete er dann einen bewaffneten Täter, der von zwei Polizisten überwältigt wurde, nachdem er einen Bankautomaten gesprengt und eine große Menge Bargeld gestohlen hatte.

Ein paar Häuserblocks weiter geschah genau das Gegenteil, denn man gab untereinander, was man geben konnte. Die Menschen dort feierten ein buntes Straßenfest, das viele fremde Kulturen und unterschiedliche Bräuche mit einschloss! Eine ausgelassene Stimmung lud zum Feiern ein, zum Essen und zum Trinken, zum Reden und zum Lachen. Gegensätze und Feindseligkeiten, die als „unüberwindbar“ deklariert waren, versickerten bedeutungslos in einer allumfassenden Menschlichkeit. Jedenfalls für den heutigen Tag und seine vermeintliche Realität.

Urban wurde nunmehr in die selbige zurückgeholt. Rasend schnell und unerwartet, immer noch fixiert an Armen und Beinen. Dem jungen Mann war schwarz vor Augen. Begleitet von einem leichten Schwindel entließ ihn die Technik der futuristisch anmutenden Versuchsanlage.

Professor Allfeld offenbarte größte Zufriedenheit mit seinem Patienten. Freudig bejaht durch die drei medizinischen Mitarbeiter, die den jungen Mann neugierig umringten. In der Aufwachphase begriff Markus Urban, dass er während seiner körperlosen Reise nicht nur den Professor gesehen hatte. Und zwar als Dieb, der von der Polizei gefasst wurde! Auch die Mitarbeiter des Labors waren ihm in verschiedenen Rollen begegnet: Die hübsche Frau in der U-Bahn, der weiß geschminkte Clown oder den mutmaßliche „Selbstmörder“ im siebten Stock.

Nachdem der Patient wieder halbwegs bei Bewusstsein war, bekam er ein flaues Gefühl in der Magengegend. Eine einzige Frage brannte nun hinter seiner schmerzenden Brust: Verfügte der Mensch gar nicht über eine selbstbestimmte Individualität – und war stattdessen schlichtweg austauschbar? Oder war jedes einzelne Schicksal ein ständiger Schöpfungsakt aus den Gedanken, Gefühlen und Überzeugungen seines jeweiligen Trägers, weil es so etwas wie einen Zufall gar nicht gab?

Bevor er weiter über diese Frage und über seine schwere Krankheit nachdenken konnte, erlosch plötzlich sein kurzes Leben. Jeder Versuch einer hektischen Reanimation schlug fehl. Das Herz stand unwiderruflich still, während die U-Bahn weiter im Minutentakt durch die Adern von Berlin raste und eine einzelne Wolke unbemerkt am endlos klaren Himmel stand.




Udo Brückmann, geb. 1967, lebt als Autor, Dozent und Coach im ländlichen Niedersachen. Zahlreiche Veröffentlichungen: Romane (Fantasy, Krimi, Historie), Kurzgeschichten, Lyrik, Gedichte für Kinder u.a. Alle Infos auf der Webseite www.udo-brueckmann.de






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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