Die Diagnose

Claudia Grothus für #kkl30 „Macht & Ohnmacht




Die Diagnose

Anke fährt. Sie hat gerade erst ihren Führerschein. Ich habe noch keinen Führerschein, obwohl ich ein Jahr älter bin als sie.

Meine Mutter sitzt hinten. Das wollte sie so. Es ist ihr unangenehm, so präsent auf dem Beifahrersitz zu fahren. Sie kennt Anke ja nur vom Guten Tag sagen. Sie kennt alle meine Freunde nur vom Guten Tag sagen.

Es fängt an zu regnen. Jede halbe Sekunde schafft der Scheibenwischer mit tumber Geduld eine klare Sicht. Und gleich darauf verschwimmt das konturierte Bild der Welt wieder hinter einem Schleier aus ineinander verschwimmenden Tropfen.

Rücklichter leuchten rot vor uns auf.

„Da ist ein Stau“, sagt Anke, schaltet das Warnblinklicht ein und bremst langsam ab. Am Ende einer Linie aus rot leuchtenden Punkten blinkt Blaulicht durch den Regen.

Von hinten höre ich ein Atmen. So ein Atmen, welches „auch das noch“ bedeutet.

Sie hat Stress. Mit dieser Fahrt, mit fremden Menschen, mit jeder Situation, die außergewöhnlich ist. Und jetzt auch noch ein Stau.

Ich weiß, dass sie sich schämt, dass sie glaubt, sie hätte versagt. Aber da ist auch ihre Genugtuung, die unter allem liegt, wie ein endlich hörbar gewordenes Grundsummen: Es musste ja so kommen! Diese Fahrt, dass wir jetzt auf dem Weg in eine Klinik sind, ist der Beweis dafür, dass sie nie eine Chance hatte.

Ich lehne meinen Kopf an die kalte Seitenscheibe und schließe kurz die Augen. Das abwechselnde langsame Beschleunigen und Bremsen setzt sich in meinem Körper fort. Ich könnte mich diesem sanften Schaukeln, dieser tragenden Bewegung, die mich ein ums andere Mal anschubst und auffängt, hingeben. Aber mein Körper verweigert seine Elastizität, hat den Spielraum für Unkontrollierbares auf eine überschaubare Enge begrenzt.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie da hinten so atmet.

Meine Mutter muss einmal begabt gewesen sein. Ihre Kunstlehrerin hat sie für ein Stipendium vorgeschlagen und sie ist von der Hochschule angenommen worden. Aber ihre Eltern haben ihr verboten, in einer fremden Stadt zu studieren. Sie musste Verkäuferin werden.

Ich weiß das, weil sie es mir schon mindestens hundertmal erzählt hat.

Und sie schmückt diese Erzählung heute noch mit einer solchen Empörung aus, als wäre das alles gerade erst passiert. Sie weiß in dem Moment wirklich nicht mehr, dass ich diese Geschichte kenne, kenne, kenne.

Und dann mein Vater. Der Smarte, der Gutaussehende. Als sie mit meinem Bruder in den Wehen lag, hat er in der Kneipe gegenüber besoffen „Oh Donna Clara“ gesungen. Sie erzählt es jedes Mal, als wäre es gestern gewesen. Zum hundertsten Mal gestern gewesen.

Sie war allein mit ihrem Kind. Später, als ich auf die Welt kam, mit zwei Kindern. Mein Vater war arbeiten, beim Fußball, in der Kneipe, nicht da. Er hat das ganze gesparte Geld ausgegeben und ihr nichts davon gesagt.

Geschichten in Endlosschleife. Wahre Geschichten. So schmerzhaft, dass sie niemand hören will. In aller Inbrunst und Ausführlichkeit. Der hellblaue, gesteppte Morgenmantel mit den überzogenen Knöpfen, den sie trug, als sie mit dem neugeborenen Baby im Krankenhaus vergeblich auf den Besuch ihres Ehemanns wartete.

Ich habe es nie übers Herz gebracht, sie zu unterbrechen und zu sagen: „Mama, das hast du mir schon hundert Mal erzählt.“

Fast noch schlimmer ist es, wenn sie von mir spricht. Wie die Hebamme mich, neugeboren und blutig, auf ihre Brust gelegt hat. Wie sie getastet hat, fünf Fingerchen, fünf winzige Zehen „wie kleine Erbsen“. Was für eine Glückseligkeit das war. Und was für lange Haare ich schon hatte! Die Schwestern haben ein winziges Schleifchen hinein gebunden. Im Geiste kann ich ihre Sätze mitsprechen. Ich kenne sie alle auswendig.

Das war die schönste Zeit in ihrem Leben, als wir noch ganz klein waren. Diese Zeit allein hat ihrem Dasein Sinn gegeben.

An dem Punkt kommt unweigerlich der Abzweig in die Bitterkeit. Dass mein Vater das ja alles gar nicht mitbekommen hat. Er war ja nie da. Sie war immer allein mit uns. Und dann geht es wieder von vorne los.

Der Wagen beschleunigt sanft. Ich öffne die Augen. Anke fährt langsam an grotesk verbeulten Autos und blinkenden Polizeiwagen vorbei.

Seit ich vor einem Jahr ausgezogen bin, sind die Depressionen meiner Mutter schlimmer geworden. Sie bekam manische Phasen und nimmt Medikamente. Wenn ich sie zu selten besuche, wird ihr Ton am Telefon schnippisch. Frage ich dann „Mama, was ist los?“, antwortet sie sie „Nichts!“ Je schlechter es ihr geht, desto kürzer angebunden behauptet sie, dass alles okay ist. Kein Mensch kann derart vorwurfsvoll „Es ist alles in Ordnung!“ sagen.

Seit einer Woche wohne ich wieder bei ihr. Es ging nicht mehr anders. Es soll auch nur übergangsweise sein, bis das mit der stationären Aufnahme klappt.

Ich wollte das nicht: noch einmal 24/7 in die Wohnung meiner Kindheit zurückkehren. Sie hat inzwischen renoviert und sich anders eingerichtet. Mein früheres Zimmer ist eine Art Abstellkammer für alles geworden, was sonst nirgendwo hinpasst. Ich schlafe jetzt dort. In ihrem alten, schmalen Bett.

Sie hat den runden Esstisch aus Glas hineingestellt. In dem ungewohnten Umfeld weckt er Erinnerungen. Ich sehe mich vor einem Monopoli-Brett. Es ist das erste Mal, dass ich das spiele. Ich bin noch ein bisschen zu klein dafür. Mein Vater und mein Bruder haben die Schlossallee und vier Bahnhöfe. Mama verliert. Dauernd muss sie etwas bezahlen, obwohl sie kaum noch bunte Scheine hat. Ich ertrage das nicht, nehme meine Geldscheine und will sie ihr schenken. Die anderen lachen. Das geht nicht, sagen sie. Das ist gegen die Regeln.

Meine Mutter genießt es, dass ich jetzt wieder da bin. Sie kauft leckere Sachen ein, kocht und holt nachmittags Kuchen. So war das immer schon. Ich habe als Kind für das kleinste Vergehen Stubenarrest bekommen. Und wenn ich dann zur Strafe zuhause war, hat sie freudestrahlend vorgeschlagen, dass wir doch in die Stadt gehen könnten, ein bisschen bummeln und hinterher Kuchen mit nach Hause bringen. Kuchen. Immer wieder Kuchen.

Und wenn wir dann da beim Kaffee saßen, in ihrem Mahagoni-Wohnzimmer, dann redete sie. Von ihrem Leben, ihren Gefühlen, all den Ungerechtigkeiten. Ich war dreizehn, als sie mir erzählte, unter welchen sexuellen Druck mein Vater sie gesetzt hat.

Nachdem sie ihn – gegen nur geringen Widerstand – hinausgeworfen hat, verschwand auch mein Bruder so früh und so weit wie möglich.

Ich blieb. Bei ihr. Ich war noch zu jung. Ich konnte nicht weg.

Sie sitzt da hinten im Auto und ich höre sie leise schniefen. Weint sie? Oder ist es nur dieses nervöse Schnuffeln, das sie manchmal hat? Ich will mich nicht umdrehen, will ihr Gesicht nicht sehen.

Mein Blick lässt sich von der dahingleitenden, regennassen Autobahn hypnotisieren. Für Anke muss die Situation auch belastend sein. Manchmal sagt sie irgendetwas zu der Strecke – wo wir abfahren müssen oder wie weit es noch ist. Mit welcher Contenance sie das meistert!

Ich hoffe inständig, dass es mit der Aufnahme in die Klinik klappt. Wie schnell das wohl geht? Tage? Wochen? Ich halte es nicht mehr lange in Mamas Wohnung aus. Bitte, bitte, lass es schnell gehen!

Anke setzt den Blinker, nimmt die nächste Ausfahrt. Da ist auch schon die Klinik. Wir biegen auf einen Parkplatz ein, steigen ächzend aus dem Wagen in die kalte, frische Luft. An der Anmeldung werde ich direkt von einer älteren Frau in Empfang genommen. Anke und meine Mutter gehen in die angrenzende Cafeteria. Mir sinkt das Herz bei dem Gedanken, dass Mama jetzt eine Stunde mit meiner ihr fremden Freundin verbringen muss.

Die Ärztin ist freundlich und distanziert. Ich erzähle ihr, dass ich vor zwei Monaten nachts im Club kollabiert bin und seitdem nicht mehr in die Uni kann, nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Inzwischen ist es so schlimm, dass ich es an schlechten Tagen nicht mehr schaffe, die Treppe hinunterzugehen, um meine Post aus dem Briefkasten zu holen. Freunde haben für mich eingekauft. Dann fing es an, dass die Panikattacken auch kamen, wenn ich allein in meiner Wohnung war. Besonders abends, wenn die ganze Nacht vor mir lag. Vor einer Woche bin ich so hohlgedreht, dass ich einen Notarzt gerufen habe. Der hat mich unter Valium gesetzt und dafür gesorgt, dass mich jemand zu meiner Mutter bringt.

Ich rede wie automatisiert, spule meinen Bericht herunter, fühle gar nichts, hoffe, dass ich überzeugend bin, dass sie mich aufnehmen werden, dass sie mich bitte, bitte aufnehmen werden.

Die Ärztin füllt ein Formular aus. Das gibt sie mir für meine Hausärztin mit. Sie nehmen mich in einer Woche in der Station für Psychosomatik auf. Ich breche fast zusammen vor Erleichterung.

Mit dem Schreiben in der Hand kehre ich zur Cafeteria zurück. Mama und Anke sehen müde und bleich aus. Wir reden erst, als wir alle drei wieder im Auto sitzen. Anke sagt, dass sie mich nächste Woche wieder fahren kann. Dann klappe ich den Zettel auf.

„Zeig mal, was steht da?“, fragt Anke.

Ich lese vor: „Adoleszenzkrise – was heißt das nochmal?“

Anke zögert. „Dass du nicht erwachsen werden willst.“

Wut und Scham treiben mir brennende Tränen in die Augen.


Mit dieser Diagnose kommen die locker mal zehn Jahre zu spät.





Claudia Grothus

Ich lebe und arbeite mit meinem Mann und diversen Tieren auf dem Land am Teutoburger Wald. Wir betreiben eine Werbeagentur und ein privates Waldrand-Artenschutzprojekt.

Ich schreibe Geschichten in den Raum zwischen Generationen, in menschliche Abgründe hinein und wieder hinaus.

Alles über mich als Autorin unter

www.claudia-grothus.de








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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