Willkommensempfang

Jürgen G. H. Hoppmann für #kkl31 „Orientierung“




»Willkommensempfang«

»Meine Damen, meine Herren. Bittschön, wir nähern uns dem Herzen der Wiedervereinigung. Legen’S ein Lineal auf ein Messtischblatt, und wo ist die Mitte Deutschlands? In Hessen oder Thüringen, darüber streiten sich die Experten. Ich habe die Ehre, Sie für die nächsten sieben Tage in einem wunderschönen, denkmalgeschützt restaurierten Fachwerkhaus-Großkomplex direkt im Zentrum von Großburschla einzuquartieren.

Gemäß Exposé der ›Wien Salzburg Real Estate Corporation‹, die gütigerweise durch Erwerb von Treuhand-Immobilien zum Erblühen der Neuen Länder einen bescheidenen Betrag leistet, ist die Anlage, bestehend aus 22 Zimmern mit Bad und WC, Aufenthalts- und Fitnessbereich et cetera samt Nebengelass für das Führungspersonal nach modernstem Standard hergerichtet. Zu ebener Erde befindet sich ein Supermarkt, dessen Angebot keine Wünsche offen lässt, und gleich gegenüber im Zentrum der pittoresken Altstadt ein Café-Restaurant mit ›Haute Cuisine‹, wie es auf diesem Flyer hier heißt.

Herr Józef, wenn’S den Bus bittschön dort zum Willkommensempfang hinlenken würden? Nein, nein, hier kann es nicht sein. Herr Max, was zeigt Ihr Navi-Tablet an?«

Der Afghanistan-Veteran muss switchen. Bei der Schaukelei im Polenbus-Gefährt rutscht ihm der Finger ständig vom Tablet. Sie kurven entlang der Werra im Deutschen Mittelgebirge fünfmal an Hinweisschildern vorbei mit der Aufschrift »Hier waren Deutschland und Europa bis zum November 1989 geteilt«. Ständig wechselt Google-Maps zwischen Hessen und Thüringen. Lehrgangsleiter Magister iur. rer. soc. oec. Jovis Morgenstern klärt auf:

»Junger Mann, unser Zielort ist von ganz besonderer Romantik. Einst von drei Seiten mit Stacheldraht, Mauern und Minenfeldern umzäunt, plus NVA-Kampfhunde an Laufleinen, Sperrgebiet, nur von DDR-Bürgern mit Passierscheinen über einen Plattenweg erreichbar, wo manche desertierten, sich über den Maschendrahtzaun hangelten und es in die Freiheit schafften – so sie denn schneller waren als das liebe Hundevieh, das sich erst einmal auf die mitgebrachte Fleisch-Köstlichkeiten stürzte, so sie den Selbstschussanlagen und Tretminen ausweichen konnten und dem Geballer der Grenzsoldaten, die mit ihren Kalaschnikows meist danebenschossen, weil sie keine Lust hatten, hinterher die Leiche vom Todesstreifen zu karren.

Die Werra mäandert in engen Schleifen von Ost nach West und kümmert sich nicht um politische Angelegenheiten. Ihr Ziel ist die harmonische Vereinigung mit der Fulda, auf dass sie sich küssen und zur Weser vereinigen müssen. Kurz nach Bremen beginnt die Hochzeitsreise in der Nordsee. Um zu verhindern, dass passierscheinlose Genossen mit Schlauchbooten Republikflucht begehen, wurden unweit des Frankenlochs unter einer Stahlbrücke Eisenplatten herabgelassen. Selbst polnische Angler, wenn sie hier mit Sondererlaubnis auf Hechtjagd gegangen wären, hätte diese stabile DDR-Konstruktion in den Strudel gerissen, ihre Wasserleichen wäre erst nach Tagen wieder aufgetaucht.

Eingeschlossen in die Flussschleife das hessische Örtchen Heldra, wo die amerikanischen Besatzungstruppen von der Fulda-Gap-Kommandantur mit Jeeps vorbeifuhren und Asylanten aus Ostdeutschland aufsammelten. Ein Ausflugsziel für Touristen aus (fast) aller Welt, die mit japanischen Kleinbildkameras grimmig dreinblickende Vopos abschossen. Es wurden sogar zwei Kinofilme dort gedreht, witzige Komödien mit ernstem Hintergrund. Sowjets und die Nationale Volksarmee: über eine halbe Million Soldaten, mit Panzern, Kampffliegern und atomar bestückten Raketen. Die US-Armee hatte beim Fulda-Gap, wo der Durchbruch erwartet wurde, Atomminen in hessischen Äckern versenkt, um den Truppen des Warschauer Pakts ein wenig die Füße zu verschmoren, die in drei Tagen alles überrennen würden. Den atomaren Holocaust in der Mitte Europas trainierten die Amis kurz nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. In Hanau bei FF/M. übten sie massenhaftes Eintüten und improvisiertes Vergraben von Leichen hessischer Bauern, denen der Gau im Ackerfeld genauso die Füße versengt hätte wie ihren thüringischen Brüdern und Schwestern. Die siegreiche Sowjetarmee hätte das nur kurzfristig aufgehalten, den NATO-Verbündeten des daraufhin radioaktiv halbierten Westdeutschlands jedoch einige Stunden verschafft, um den Rückzug über den Rhein zu ermöglichen. Eigentlich hatte man in Frankfurt am Main, zentrale Großstadt der BRD, zur Bundeshauptstadt erklären wollen. Das neue Parlamentsgebäude war gebaut. Doch entschied man sich für das kleine Provinznest Bonn am Fuße der Hardthöhe, Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums, relativ sicher auf der anderen Rheinseite gelegen.

Nun, es kam anders. Die Russen zogen ab, der Todesstreifen wandelte sich zum grünen Lebensband. Staatlich finanzierte Öko-Projekte ermöglichen seitdem, dass friedlich Schafe grasen, wo einst Tretminen lagen. Ein Premiumwanderweg wurde angelegt. Der NVA-Radarüberwachungsturm erhielt eine charmante Verblendung, dient seitdem als Aussichtsplattform. Bei guter Sicht schaut man weit ins Hessenland zur Rhön und dem Vogelsberg, ins thüringische Rennsteiggebirge und nach Oberhof ins einstige DDR-Wintersportzentrum. Für Kunstsinnige unter den Wanderern wurden esoterisch gestaltete Pfade entwickelt, mit obligatorischen Herzchen und Regenbogen-Schmetterlingen bemalt, selbstverständlich von Hand gestaltet auf Naturholz. Sinnsprüche dürfen nicht fehlen, statt Karl Marx, Lenin und dergleichen nun dem Dalai Lama und Mahatma Gandhi aus der Feder gesprungen. Spaßbäder in den umliegenden Mittelstädten runden das Angebot ab. Eigentlich der ideale Ort, um kriegstraumatisierten Bundeswehrsoldaten neue Lebenslust einzuhauchen.«

Max schaut aus dem Busfenster.

»Positiv … korrigiere negativ. Doppelt und dreifach negativ. Große Scheiße!«

Zustimmendes Raunen im Polskibus. So viel Applaus erntet er selten. Sogar Gwiazdek zwirbelt schmunzelnd seinen Piłsudski-Bart und nickt ihm zu. Er lässt sein Gefährt im Stand tuckern und denkt im Traum nicht daran, die Türen zu öffnen. Bläulich-weißer Dieselqualm steigt bis zu den ersten Stockwerken der umliegenden Gebäude hoch. Morgenstern wedelt linkisch mit den Armen.

»Verstehen’S doch, Herrschaften! Was nützt das schönste Exposé, wenn sich kein Investor findet für den Architektenentwurf? Ich habe in der letzten halben Stunde mehrmals das Immobilienbüro meines Bekannten antelefoniert. Er urlaubt in Florida momentan, lässt seine Sekretärin wissen und verweist auf die Tourismuszentrale hier in Großburschla zwecks Asylantenunterkunft, kurzfristig, interimsmäßig. Gibt bloß keine, lediglich ein ehemals volkseigenes Kulturzentrum, das die Treuhand für die symbolische eine Westmark den hiesigen Bürgern überlassen hat.«

Der Ortskern dieses Zipfels im ehemaligen Grenzgebiet sieh so aus, als sei im Freudentaumel der deutsch-deutschen Wiedervereinigung versehentlich eine US-Atommine hochgegangen. Die Fachwerkhäuser stehen da wie vor dreißig Jahren, bloß eingefallen, mit Dachbegrünung durch die eingefallenen Balken. Dass sie ihr Luxusquartier an der Marktstraße, Ecke »Hessisches Ende«, wie die Querstraße in diesem thüringischen Flecken sinnigerweise genannt wird, tatsächlich erreicht haben, steht außer Frage.

Dass sich in der Ruine ehemals ein Lebensmittelgeschäft befand, erkennt man am verwitterten HO-Schild über dem Eingang und Schaufenstern mit verstaubten Waschmittelpackungen Marke Riwa, Fristo, Imi, Gemol und Spee aus original volkseigener Produktion. Das Café übers Eck hat zumindest die Wende geschafft, wie die Alu-Tür und der Anfang der 90er-Jahre sicherlich hochmoderne Schriftzug beweist. Der Start in die neue Zeit wurde gewagt, war jedoch ein Rohrkrepierer, eine Fehlzündung im neu erblühten Kapitalismus, denn der Laden ist schon lange geschlossen.

»Geradeaus, dritte links.«

Max hält sich an der Rückenlehne des Fahrersitzes fest, Uromis Tablet in der anderen Hand. Der Pole haut den ersten Gang rein. Ruckelnd passieren sie Kirche und Rathaus, bei denen die Subventionen Marke »Aufbau Ost« anscheinend angekommen sind. Drei Straßen weiter ein Plattenbaugebiet. Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Weder Ochs noch Esel hält die Truppe auf. Der Österreicher hält ausnahmsweise mal die Klappe. Alles sauber, alles ordentlich hier. Vor einem himmelwärts strebenden Betonplattendach, das volkseigenen Optimismus verkündet, zieht Gwiazdek die Handbremse und würgt den Diesel ab. Hinter Gardinchen ist Licht. Rentnerinnen meist älteren Kalibers üben sich im Standardtanz. Einige Wartburgs vor dem Kulturhaus-Eingang, gut gepflegt, aufgepimpte Trabbis und moderne Limousinen, im Opel-Werk Eisenach produziert.

Jovis Morgenstern tut einen schweren Gang. Der Magister der Jurisprudenz, Sozial- und Ökonomiewissenschaften aus Wien, Schirmherr des renommierten GSB Gesundheits-Bildungs-Service – derweil ad infinitum seine Leitungsfunktion bei der Europäischen Zentralbank ruht – versichert sich, dass noch genug Tinte in seinem Pelikan-Füllfederhalter ruht, zieht mit zitternden Fingern gleich zwei seiner Visitenkarten, Tiefdruck in Gold auf dickem Edelkarton, aus der Einstecktasche seines Sakkos, prüft im Rückspiegel des Polskibusses sein Aussehen, fährt sich mit einem Kamm durchs schüttere Haar und steuert auf das Gebäude zu.

Dass sich Truppe derweil geschlossen in die Anglerklause begibt, die einzige Kneipe, die laut Google Maps geöffnet ist, um sich die Lage schönzusaufen, daran kann er nichts ändern. Auch daran nicht, dass er die Zeche zahlen muss. Jetzt heißt es, Überzeugungsarbeit zu leisten bei den kommunistischen Damen im Tanzsalon. Wieder Charme, seine mächtigste Waffe. Irgendwie reißt der Österreicher diese prekäre Situation.

»Gnädige Frolleins, dürfte ich zum Tanz bitten?«


»Willkommensempfang« aus »Die Herzheilerin – und andere Grausamkeiten« von Jürgen G. H. Hoppmann, 2023 Hamburg, Tredition




Jürgen G. H. Hoppmann lebt “in the middle of nowhere” zwischen Old Europe und New Europe. Es kommt auf den Blickwinkel an, wie man in diesen Ort hinein bzw. aus ihm herausschaut. Eines steht auf jeden Fall fest: Der schönste Platz in Görlitz ist Zgorzelec. Wer’s nicht glaubt, soll sich auf die Reise machen! In seinen Romanen »Die Herzheilerin« und »Der Astrologe« ignoriert er gängige Ost-West-Kategorien und Rechts-Links-Lagerdenken. Vielmehr orientiert er sich an Colin Cotterills »Dr.-Siri-Krimis« sowie Wolfgang Herrndorfs Romanen »Sand« und »Bilder einer großen Liebe«.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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