Der Raum

Annette van den Bergh für #kkl31 „Orientierung“




Der Raum

Sie wusste nicht, ob sie lebt oder ob sie tot ist. Ein abgeschlossener Raum. Da erwachte sie. Sie weiß nicht, aus was oder woher sie erwachte. Sie schlug einfach irgendwann die Augen auf und sah sich um. Wo ist oben, wo ist unten in diesem Raum? Gab es als Koordinaten nur ihre Füße und ihren Kopf sowie die rechte und die linke Hand?  Woher hatte sie dieses Vorwissen über Gravitation in Räumen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann ihr diese Kenntnisse vermittelt worden waren, die in diesem Kubus auch jetzt noch ganz unnötig scheinen. Um sie herum ist alles weiß. Auch ihre Haut ist weiß. Sie kann sprechen und sie kann Gesprochenes verstehen. Sie kann sich keine Vorstellung darüber machen, woher sie das mitgebracht haben könnte, diese Fertigkeiten. Alles andere ist egal. Sehen, gehen, greifen – das sind Automatismen. Hören, essen, verdauen – das funktioniert ohne ihr bewusstes Zutun. Über ein Mikrofon, das sie in dem weißen Quadrat nicht orten kann, bekommt sie ihre Anweisungen. „Hol´ dir deinen Apfel und iss ihn. Er versorgt dich mit Vitamin A und wertvollen Vitaminen aus dem B-Komplex.“ Dann wird ihr ein Apfel auf einem weißen Teller durch eine Luke hindurch geschoben. Die lamellenartige Schiebetür surrt, wenn sie sich öffnet. Sie hört dieses Summen gerne. Das Essen gibt ihr das Gefühl, etwas Gutes für ihren Körper zu tun. Sie tut auch etwas Gutes für ihren Körper, wenn sie über das Mikrofon aufgefordert wird, schlafen zu gehen. Sie lässt sich dann auf einen weichen, weißen Sack fallen. Der weiße Kubus wird sekundenschnell zum schwarzen Nichts. „Das tut dir gut“, sagt ihr das Mikrofon. Sie erwacht immer erst dann, wenn der unbestimmbare Raum bereits in seinem makellosen Weiß erstrahlt. Es riecht dann so, als sei die Luft gereinigt worden. Erinnert sie sich an diesen Geruch aus einer anderen Zeit? Sie weiß nichts mehr von einer anderen Zeit. Es gibt keine Zeit. Es gibt nur Übergänge von einem Zustand in einen anderen Zustand. Diese ganzen Zustände in ihrer Brust. Über einen Bildschirm darf sie an der Welt teilnehmen. Es ist eine bunte Welt. Eine Welt, die sich für sie nicht zusammensetzt. Eine Welt aus unzähligen, einzelnen Bildern, die in schneller Aufeinanderfolge, in harten Schnitten, auf ihrer Netzhaut landen. Dazu diese vielen Stimmen. Hohe, tiefe und andere Stimmen. Oder Laute? Information, das ist alles Information. „Es gibt dir Orientierung“, hat ihr die Stimme aus dem Mikrofon gesagt und ihr befohlen, den Bildschirm mit einem Schalter anzuknipsen, den sie in ihrer Hand halten kann. „Schau dir die Welt an. Du kannst dir ein Bild machen. Du kannst dir das ganze Wissen in deinen Raum holen.“ Der Bildschirm tut auch Gutes für ihren Körper. Nicht nur für ihre Synapsen. Ein anderes Wesen, so ein Wesen wie sie, zeigt ihr ganz einfache, jedoch effektive Übungen für ihren Körper, für ihre Beweglichkeit, für ihre Entspannungsmaximierung. Der ganze, weiße Raum ist dazu da, Orientierung für ein angemessenes Leben in der Welt zu geben. Sie ist informiert. In ihrem Raum, in dem sie sich bewegt, gibt es eine Tür. Es ist nicht die Glastür zu ihrer Nasszelle. Es ist eine weiße Tür in einer der weißen Wände. Sie hat sich nie gefragt, was sich hinter dieser Tür befinden könnte. Jetzt, in diesem Moment, öffnet sie die Tür. Sie sieht an sich hinunter, sieht, wie ihr rechter Fuß sich langsam auf der grünen Wiese abrollt. Die grüne Wiese ist kühl und feucht. Die grüne Wiese übermittelt ihr inzwischen über beide Füße Information. Ihre Synapsen verarbeiten diese Information. Und ein Oben will auf sie hinunterstürzen. Und das Loch vor ihr, wird von einer schrecklichen Weite verschluckt. Und hinter ihr schließt sich ein etwas. Und dann sieht sie, wie alles auf einmal auf sie zukommt.




Annette van den Bergh wurde in Wiesbaden geboren. Mit der Maueröffnung folgte der Aus- und Aufbruch nach Berlin.
Sie studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie und arbeitete als freie Mitarbeiterin für die Feuilletons diverser Zeitungen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wiesbadener Tagblatt, epd-berlin etca.) Insgesamt entstanden unzählige kulturelle Reportagen und Besprechungen von Büchern, Lesungen und Festivals. Veröffentlichungen in Literatur-Zeitschriften folgten (LIMA, Perspektiven, Verdichtet etca.). Seit 2012 genießt sie die Freiheit, für Ihren Berliner Literatur- und Kultur-Blog paganinisberlin.net zu schreiben. Hier veröffentlicht sie auch ihre belletristischen Texte: Roman-Auszüge, Kurzgeschichten, Miniaturen oder auch Lyrik. So entstanden 3 Bücher.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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