Herz-König

Udo Brückmann für #kkl31 „Orientierung“




Herz-König

Die Polizeiinspektion in Passau stand vor einem Rätsel. Ein bayerischer Rentner war an diesem Vormittag in der barocken Drei-Flüsse-Stadt auf der Burg Veste Oberhaus brutal ermordet worden. Wahllose Messerstiche deuteten auf einen unberechenbaren Täter.

Die Sonne brannte. Dem kleinen, bierbäuchigen Hauptkommissar rann der Schweiß aus allen Poren. »Habt ihr euch das mal genauer angeschaut?«, schnaubte Woidhacker.

Die umher stehenden Gerichtsmediziner und Spurensicherer wirkten ein wenig ratlos.

»Das ist ein ziemlich merkwürdiges Beweisstück«, entgegnete Kriminalassistent Christian Gruber und begutachtete einen flachen, rechteckigen Gegenstand in einer durchsichtigen Plastiktüte. Es war eine Spielkarte: Herz-König, blutverschmiert, auf der Vorderseite mit einem großen „F“ bekritzelt, dahinter eine römische Zwei.

»Fingerabdrücke?«

»Keine.«

»Gut, dass Sie mich an meinen Kartenklub erinnern«, bemerkte Kommissar Woidhacker. »Was Sie da in der Hand halten, ist der ‚Max‘, die höchste Karte  beim ‚Watten‘. Aber ihr jungen Hüpfer kennt Sie so etwas bestimmt nicht mehr!«

Gruber schüttelte unmerklich den Kopf und schmunzelte. »Es steht etwas auf der Rückseite in lateinischer Schrift, groß und deutlich.« Er las folgende Worte laut vor: »Gens Batavorum amici et fratres Romanii Imperii«.

Der Kommissar zupfte an seinem zerknitterten Sakko. »Lassen Sie das übersetzen.«

»Nicht notwendig«, bemerkte der Kriminalassistent mit einem gewissen Triumph in der Stimme, »ich hatte Latein im Studium, wollte mal Anwalt werden.«

»Ja, Herrschaftszeiten! Bitte! Ich höre?«

»Also, es heißt ‚Freunde und Brüder des Römisches Reiches‘ und ‚Gens Batavorum‘ ist… irgendein Volk.«

»Jetzt dürfte klar sein, warum es bis zum Anwalt nicht gereicht hat.« Woidhacker genoss die Situation. »Die Bataver sind eigentlich unsere Vorfahren. Nun ja, damals ein Teil unserer Besatzungsmacht! Passau und ein Großteil der Alpen- und Donauregion war schließlich mal so etwas wie römisch. Aber machen Sie nicht so ein saures Gesicht, Gruber. Das kann jedem mal passieren.«

In diesem Moment kam ein weiterer Polizist auf das ungleiche Ermittlerteam zu.

»Herr Hauptkommissar, ein Mann mit Maske hat in der Altstadt mit einem Messer wahllos auf Passanten eingestochen, unter den Verletzten sind mehrere Jugendliche, eine ältere Dame, ein Eisverkäufer und ein kleines Kind. Zuvor hatte der Täter das Denkmal auf dem Domplatz mit roter Farbe geschändet und ist flüchtig.«

Auf dem Passauer Domplatz vor den mächtigen Türmen von Sankt Stephan waren mehrere Polizeibeamte damit beschäftigt, Zeugenaussagen zu Protokoll zu nehmen. Ein Großaufgebot von Polizeiwagen, Krankenwagen und Rettungskräften hatte bereits alle Hände voll zu tun, als Woidhacker und Gruber eintrafen. Einige Bürger empörten sich darüber, dass solch ein Vorfall bei hellichtem Tag geschehen konnte. Schließlich sei man zwischen Donau, Inn und Ilz keine Terroristen-Hochburg.

Der Hauptkommissar nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. Die meisten Blutspuren gab es unweit des Denkmals von Maximilian I., dem ersten König von Bayern; entsprechend dargestellt in vollem Krönungsornat und mit segnender Hand, als sei es eine christliche Geste.

Der Tatort war gesperrt und die Passauer Polizei hatte Mühe, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Nicht wenige Gaffer drängten zum Schauplatz.

»Schau’n Sie doch mal, Herr Kommissar!«, entfuhr es Gruber und wies mit dem Zeigefinger auf den hohen Granitsockel des bronzenen Denkmals.

Das mit Sternen umkranzte „M“ für „Maximilian“ war auf beiden Seiten mit einem roten „F“ besprüht, dahinter leuchtete ebenso rot eine römische Zwei!

»Ja, Herrschaftszeiten nochmal!«, redete sich Woidhacker in Rage.

»Der ‚Max‘, Herz-König, die Spielkarte«, bemerkte Gruber trocken und tauschte einen Blick mit seinem Vorgesetzten aus.

Woidhackers Gesicht glühte. »Benannt nach Maximilian I., König von Bayern! Wir müssen herausfinden, was ‚F II‘ bedeuten soll.«

»Friedrich der Große?«, schlug der Kriminalassistent spontan vor.

»Sie meinen, die Preußen rücken ein? Das würde ich in jedem Zeh spüren.« Der Kommissar wirkte nachdenklich und schüttelte mit dem Kopf. »Nein, nein, nein. Wo bleiben denn da die Bataver, unsere Freunde des hegemonialen Roms?«

Gruber tippte eine Weile auf seinem Smartphone herum und verlagerte die Suche nach historischen Hinweisen ins Internet. Derweil erkundigte sich der Kommissar bei seinen Kollegen nach den ersten Zeugenaussagen, die weitgehend übereinstimmten. Der Täter wurde als junger Mann in weißer Jogginghose, rotem T-Shirt und Sandalen beschrieben, das Gesicht komplett mit einer schwarzen Maske bedeckt, mit Aussparungen für Augen und Nasenlöcher. Die Tatwaffe wurde einstimmig als einen Dolch mit breiter Klinge und Einkerbungen identifiziert.

Der Kriminalassistent räusperte sich dezent.

»Nicht so zaghaft, Gruber«, erwiderte der Kommissar, »schießen Sie los, bevor noch irgendwo eine Tube Senf platzt!«

»Nun ja, im Grunde befinden wir uns hier im ehemaligen Bereich des römischen Kastells Batavis. Genau an der Stelle des heutigen Stephansdoms und seinen Plätzen rundherum. Die Veste Oberhaus war die Burg des fürstlichen Bischofs, sozusagen der Regierungssitz im Römischen Reich«, sagte Gruber, als halte er einen wichtigen Vortrag. »Bei der Tatwaffe könnte es sich um den sogenannten ‚Pugio‘ handeln, einem zweischneidigen, römischen Dolch mit Blutrinnen, daher die Einkerbungen.«

»Na, bitte. Gut gemacht! Und was ist mit dem Denkmal?«, fuhr Woidhacker fort, »irgendwelche Besonderheiten?«

»Eigentlich nicht«, so die Antwort, »1826 aufgestellt, 23 Jahre nachdem das eigenständige Fürstentum Passau in das neue Königreich Bayern eingegliedert wurde. Auch die Wittelsbacher haben ja Einiges auf dem Kerbholz!«

Gruber und Woidhacker sahen einander erschrocken an, als könnten sie die jeweiligen Gedanken des Anderen lesen.

»Der Wittelsbacher Brunnen!«, kam es fast gleichzeitig aus beiden Mündern.

Kurz darauf hatten die meisten Einsatzkräfte Order, den Stephansdom und den dahinterliegenden Residenzplatz so unauffällig wie möglich zu umstellen. Dort nämlich befand sich jener Brunnen, der den Familiennamen der bayerischen Monarchie trug.

Der Kommissar und sein Assistent lagen mit ihrer Vermutung richtig. Nachdem sie hinter Sankt Stephan angekommen waren, bot sich ihnen ein absurdes Bild: Der mutmaßliche Täter badete vergnügt in der geschwungenen, steinernen Schale des Wittelsbacher Brunnens und wurde schnell von allen Seiten durch Polizeibeamte mit gezogenen Waffen umringt. Aus zwei Megaphonen tönten entsprechende Warnungen an die Bevölkerung, dem gefährlichen Geschehen fernzubleiben. Eine knisternde Spannung lag zwischen Inn und Donau.

Eilig wurden Absperrungen errichtet. Der Täter, der seine Maske wie selbstverständlich abgelegt hatte, ließ sich durch den Trubel um sich herum nicht stören. Er schien nur das erfrischende Wasser zu genießen und betrachtete mit großen Augen die Engelsfiguren am Brunnen, auf die er mit Verachtung spuckte.

Hauptkommissar Woidhacker hatte sich dem Wittelsbacher Brunnen bis auf etwa fünf Meter behutsam genähert.

Dann hielt der Attentäter seinen römischen Dolch in die Höhe.

»Nicht schießen«, befahl der Kommissar den Polizeibeamten. »Wir sollten ihn anhören, um genau sein Motiv zu kennen.«

Ein unnatürlich lautes Lachen drang vom Brunnen herüber. Der junge Mann richtete sich mit nasser Kleidung auf. »Bürger von Rom! Fürchtet euch nicht!«, rief er theatralisch. »Ich bin gekommen, um euch vom Tyrannen zu befreien, von eurem König. Denn bald sind wir alle zwischen Genf und Wien zusammen wieder dem rechtmäßigen Kaiser unterstellt. Und weit darüber hinaus!« Der Täter lachte erneut in unnatürlicher Weise. In seinem Ausdruck lag der blanke Wahnsinn. »Heil dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Franz II.! Seine Regentschaft muss von heute an fortgesetzt werden! Freie Bürger von Rom! Lasst uns gemeinsam ein neues Imperium errichten! Nieder mit dem Tyrannen!«

Woidhacker stand dem Täter nun unmittelbar gegenüber. »Wir werden das ausführlich miteinander besprechen, aber zuerst geben Sie mir bitte Ihre Waffe.«

Der Täter nickte langsam. »Du allein hast Schuld, wenn unser Plan misslingt!«, bellte er in Richtung des Kommissars. »Du hast Schuld! Du stehst für Recht und Ordnung, aber nicht für meine!« Mit diesen Worten drohte der Mörder seinem Gegenüber Rache. Plötzlich sprang er mit dem römischen Dolch in der Hand aus dem Brunnen, sodass Woidhacker in akute Gefahr geriet!

Zwei finale Rettungsschüsse ließen den Täter zurück in das Becken taumeln, in das er rücklings hinein stolperte. Er war tödlich getroffen und das Wasser des Brunnens nahm bald eine rötliche Farbe an.

Nicht weit entfernt blieb König Maximilian auf seinem Granitsockel davon unbeeindruckt und segnete weiterhin mit schützender Hand die Menschen diesseits und jenseits der Alpen.




Udo Brückmann, geb. 1967, lebt als Autor, Dozent und Coach im ländlichen Niedersachen. Zahlreiche Veröffentlichungen: Romane (Fantasy, Krimi, Historie), Kurzgeschichten, Lyrik, Gedichte für Kinder u.a. Alle Infos auf der Webseite www.udo-brueckmann.de






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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