Zehn Sinne

Simon Krappmann für #kkl32 „Keime des Sinnvollen“




Zehn Sinne

Was ist der Sinn des Lebens? Vorsicht: Das ist eine Suggestivfrage! Unterstellt sie doch, dass es genau eine richtige Antwort geben müsse: den einen Seinszustand, das eine Lebensziel, den einen Kausalzusammenhang. Aber unsere Existenz scheint aus sich selbst heraus keinen Universalsinn anzubieten.

Wird die Sinnfrage damit sinnlos? Sollten wir uns mehr auf Beziehungen und Tätigkeiten be-sinnen, die unsere Lebensfreude steigern und auf diese Weise ein Indiz für ihre Sinnhaftigkeit mitliefern? Dagegen kann nichts einzuwenden sein. Andererseits entgleitet so eine Frage, die seit Jahrtausenden die Menschheit aufwühlt und beflügelt. Sinn stärkt, das ist erwiesen. Selbst der vermeintliche Nihilist Friedrich Nietzsche erkannte: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Als jemand, der Sinn wie die Luft zum Atmen braucht, möchte ich an der großen Frage festhalten, sie aber transformieren. Mein Vorschlag: Was sind die Sinne des Lebens? In der Mehrzahl wird die Frage offener, darf allerdings auch nicht ins Beliebige abdriften. Vielmehr suche ich nach einem Mittelweg zwischen dem „einen“ und dem „meinen“ Sinn. Aus diesen Überlegungen sind zehn Sinnangebote hervorgegangen, die ich einmal vorstellen möchte.

1. Der Übersinn: Der Übersinn ist eine der ältesten Antworten auf die große Sinnfrage. Er überzieht die irdische Existenz mit einer metaphysischen Bedeutung, aus der sich Lebenssinn ableitet. So darf ich bei vielen Religionen darauf hoffen, nach dem Tod in ein himmlisches Reich aufgenommen zu werden. Mein Leben findet seinen Sinn in Gott, dem ultimativen „Über“. Voraussetzung ist, dass ich zweifelsfrei davon über-zeugt bin, selbst wenn es für ein Über aufgrund seiner sinnlich nicht erfassbaren Beschaffenheit keine Evidenz gibt. Wer das kann, darf sich wahrlich gesegnet fühlen und hat es oft leichter im Leben.

2. Der Gemeinsinn: Auch dieser Sinn geht in einem „Über“ auf, aber primär in Bezug auf die Menschheit. Sinn entsteht, indem sich Menschen als soziale Wesen begreifen und für andere Menschen einsetzen – bis hin zur Liebe als stärksten Bindung. Gemeinsinn kann sich auf unterschiedlichste Weise entfalten: von Freundschaften, Partnerschaften und Familien über alle erdenklichen Gruppen und Bewegungen bis hin zur gesamten Menschheit. Der Gemeinsinn beschränkt sich auch nicht auf das gegenwärtige Miteinander, sondern bezieht vergangene und künftige Generationen ein.

3. Der Eigensinn: Den scheinbaren Gegenpol zum Gemeinsinn bildet der Eigensinn. Er steht für das Individuelle, zum Beispiel das Streben nach Erfolg. Eigensinn kann sich aber bestens mit Gemeinsinn ergänzen, wenn er den leistungsunabhängigen Wert des Menschen aus seiner inneren Natur heraus meint. Mit den Worten von Albert Einstein: „Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, ein erfolgreicher Mensch zu sein, sondern ein wertvoller.“ Diese Wertigkeit und damit verbundene Selbstfürsorge ist auch eine fruchtbare Basis, um sich für andere Menschen einzusetzen.

4. Der Weitsinn: Wer Sinn weniger als Seinszustand, dafür mehr als Lebensaufgabe versteht, könnte sich mit dem Weitsinn anfreunden. Er bildet sich über ein zeitlich oder räumlich entferntes Ziel, welches so erstrebenswert ist, dass es unbedingt erreicht werden will. Mit dem Weitsinn verbinden sich archetypische Erzählmuster, beispielsweise die Verheißung des Abenteuers, eine neue Welt zu entdecken. Der Weitsinn geht auch mit dem Gemeinsinn Hand in Hand, etwa, wenn sich die Frage nach dem Fortbestehen der Menschheit stellt.

5. Der Nahsinn: Gegenspieler zum Weitsinn ist der Nahsinn, der auch Fein-, Spür- oder Scharfsinn heißen könnte. Er braucht nicht den sehnsüchtigen Blick in die Ferne, sondern geht in einer naheliegenden Aktivität auf: einer Beobachtung, einem Gespräch, einem Buch, einem Handwerk, einer Sportart et cetera. Die Psychologie bezeichnet den beglückenden Zustand, der sich beim Vertiefen in eine Tätigkeit einstellen kann, als Flow. Nah- und Weitsinn können sich auch wunderbar ergänzen, zum Beispiel, wenn sich jemand ins Musizieren vertieft und zugleich den Plan verfolgt, ein Instrument meisterhaft zu beherrschen.

6. Der Frohsinn: Schwingt das Beglückende im Nahsinn schon mit, wird es beim Frohsinn zum zentralen Motiv. Dieser selbsterklärende Sinn findet im Hedonismus seinen philosophischen Ausdruck: dem Streben nach mehr Sinneslust und weniger Leid. Ein solcher Lebensstil wird manchmal mit Ausschweifung und Dekadenz assoziiert, was aber nicht Kern des Frohsinns ist. Diese Extreme würden seiner Definition widersprechen, da sich rauschhafter Genuss schnell ins Gegenteil verkehren kann. Die Hedonisten rund um den Philosophen Epikur strebten stattdessen einen maßvollen Genuss als gelingendes Leben an.

7. Der Trübsinn: Zum nächsten Gegenspieler: Der Trübsinn fordert den Frohsinn auf fundamentale Weise heraus. Er würdigt das Leiden nicht herab, sondern erkennt es als wesentlichen Umstand des Menschseins an. Sein Hauptmotiv ist der Tod, der jegliches Leben limitiert und damit entscheidend prägt. Wer im Trübsinn verweilt, denkt besonders viel über die große Sinnfrage und die Vergänglichkeit aller Dinge nach. Man könnte ihn auch als Tiefsinn bezeichnen, wobei der Grat zwischen leidenschaftlicher Hingabe und Verzweiflung ein schmaler ist. Als Melancholie fällt der Trübsinn keineswegs nur negativ aus: Er ist zutiefst authentisch und poetisch.

8. Der Nichtsinn: Genau wie der Trübsinn betrachtet auch der Nichtsinn das Leiden als wesentlichen Lebensumstand. Er versucht allerdings nicht, darin aufzugehen, sondern verortet Sinn einzig in der Abkehr vom Leid. Anders als der Frohsinn sieht er auch keine Lösung im Genuss, da dieser das Leiden nur kurzzeitig unterbricht. Aus einer solchen Sichtweise heraus gibt es nur eine Option, um den destruktiven Kreislauf zu durchbrechen: ihn zu transzendieren und das Nichts anzustreben – wie oft in fernöstlicher Spiritualität. Möglicherweise ist die aufreibende Suche nach Sinn ja bloß viel Lärm um nichts.

9. Der Widersinn: Auch der Widersinn geht davon aus, dass in unserer gegebenen Existenz kein tieferer Sinn verborgen liegt, trifft jedoch eine andere Schlussfolgerung: Wenn das Leben an sich sinnlos ist, dann hat der Mensch noch immer die Freiheit, sich gegen die Sinnlosigkeit aufzulehnen und in seiner Revolte einen Sinn zu erkennen. Widersinn kann selbst dort noch wirksam sein, wo jede andere Sinnhaftigkeit verworfen wurde. Verbunden mit der Freiheit und Verantwortung, die aus dieser existenzphilosophischen Haltung folgt, kann der Widersinn den Weg zu einem ausgeprägten Eigen- und Gemeinsinn ebnen.

10. Der Unsinn: Wem der Nichtsinn zu leer und der Widersinn zu störrisch ist, kann noch eine andere Perspektive einnehmen: die unsinnige. Der Unsinn schließt nicht aus, dass ein höherer Sinn existiert, weiß andererseits aber nichts darüber. Seine Intention besteht darin, Sinnmodelle zu parodieren. Im besten Sinne handelt es sich um einen Leichtsinn, der dank seines humorvollen Entgegenhaltens stets auch die Möglichkeit eines höheren Sinns aufrechterhält. Es ist ein bisschen wie mit dem Tag, der die Nacht braucht, um zum Tag zu werden. Der Unsinn umgarnt den Sinn und formt sich mit diesem zu einem dynamischen Sinn-Unsinns-Yin-und-Yang.

Sent

Was sind die Sinne des Lebens? Vielleicht fällt es schwer, eine Auswahl zu treffen, aber genau das ist das Schöne: Wir müssen keinen Lebenssinn mehr ausgrenzen. Stattdessen werden alle Sinne zu Begleitern auf unseren Wegen – häufig mit einem persönlichen Schwerpunkt, aber immer mit allen Möglichkeiten im Gepäck. Auf diese Weise wird das Leben umso mehr als das er-leb-bar, was Sinn gemäß seinem indogermanischen Wortursprung „sent“ ist: eine Reise.

Welcher Sinn spricht dich besonders an? Welchen würdest du ergänzen?

Ich freue mich auf deinen Kommentar oder deine E-Mail.




Simon Krappmann arbeitet als Redakteur in Frankfurt am Main und als freiberuflicher Autor.

Kontakt: mail@simonkrappmann.de

Homepage: www.simonkrappmann.de





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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