Leider nicht zuständig

Christiane Schwarze für #kkl32 „Keime des Sinnvollen“




Leider nicht zuständig

Sie hatte vor einer Weile die Zuständigkeit für kleine Wunder erhalten. Nicht, weil sie keine Mittleren und Großen vollbringen konnte, sondern weil nur dieser Platz in der Abteilung frei gewesen war.
Vorher arbeitete sie im Chor, obwohl sie Singen nicht ausstehen konnte. Als sie dann auch noch in den Sopran eingeteilt wurde, bat sie um Versetzung. Es erschien ihr immer noch erträglicher, nur kleine Wunder zu vollbringen, als in den höchsten Tönen zu jubilieren.
Welche Menschen Wunder geschenkt bekamen, hatte nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Ob es sich nach dem Zufallsprinzip entschied oder von der Laune der Vorgesetzten abhing, vermochte sie bislang nicht zu ergründen.

An diesem Dienstag stand in ihrem Auftragsbuch „Clara-Schumann-Straße 11“.
Nach dem Klingeln öffnete ein Mädchen. Es blickte griesgrämig drein.
Pflichtschuldig begann sie ihren Spruch aufzusagen: „Heute passiert dir ein kleines Wunder …“
Unwirsch wurde sie unterbrochen.
„Das können Sie behalten, ich brauche ein Großes, ein Riesengroßes oder gar keins!“
Sie hatte beim Verrichten ihrer Arbeit schon verschiedene Menschen kennengelernt, aber so eine Unverschämtheit war ihr bisher noch nirgends untergekommen. Nicht, dass sie nie um ein großes Wunder gebeten wurde. Im Gegenteil, dies geschah sogar öfter. Kranke baten um Heilung, Verschuldete um Geld. Aber doch bitte in einem anderen Ton!
Abgesehen davon, dass sie solche Wünsche leider sowieso abschlagen musste.
Wahrscheinlich war ihr Gegenüber so ein verwöhntes Gör, das von den Eltern jeden Wunsch von den Lippen abgelesen bekam. Wütend beschloss sie zu gehen. Wäre da nicht dieser Schimmer in den Augen ihres Gegenübers gewesen, hätte sie das auch getan.
So aber fragte sie: „Was ist denn los?“
Die erwartete patzige Antwort blieb aus. Stattdessen rollten Tränen über die Wangen des Kindes.
„Ich habe zu Andrea gesagt, dass ich Mäuse nicht ausstehen kann“, schluchzte es ihr entgegen.
„Ja und?“
„Woher sollte ich denn ahnen, dass sie gerade eine geschenkt bekommen hatte? Jetzt ist Andrea mir böse und will nie mehr was mit mir zu tun haben. – Wir wohnen doch erst ganz kurz hier in diesem blöden Dorf, und sie ist meine einzige Freundin!“
„Ach, die kommt bestimmt wieder.“
„Von wegen, Tiere sind ihr Ein und Alles. Aber ich wusste doch nur von dem Hund, der Katze und den Hasen. Gegen die hätte ich nie was gesagt. Das mit den Mäusen verzeiht sie mir bis zum Lebensende nicht!“
Das Mädchen schluchzte nur noch vor sich hin.
„Dann ist es doch gut, dass ich gekommen bin. Bei dieser Kleinigkeit helfe ich dir gerne. Ich messe mal nach, das fällt ganz bestimmt in meinen Bereich.“
Sie zog das Prüfgerät aus der Tasche, gleich würde sie einem Kind den Tag retten. Umso irritierter war sie, als nach Eingabe der erforderlichen Daten ein Rot aufflammte.
„Ich muss mich vertippt haben.“
Aber auch nach Wiederholung des Vorgangs lautete das Ergebnis: Rot. Die Farbe für Wunder, deren Durchführung ihr strengstens untersagt waren. Hätte sie doch bloß dem Mädchen keine Hoffnung gemacht. Diese Freundin schien tatsächlich so tief gekränkt zu sein, dass ein kleines Wunder nicht ausreichte, um sie zu versöhnen. Gerade als sie diese bedauerliche Tatsache mitteilen wollte, spürte sie eine warme Hand auf ihrem Unterarm.
„Danke!“
Verflixt, es wäre ein Leichtes, das größere Wunder zu bewirken, aber wenn sie das täte, landete sie schnurstracks wieder im Chor. Wie sie dessen Leiterin kannte, müsste sie zur Strafe noch öfter Sopransoli singen. Immerhin, sie wäre dort wenigstens nicht allein. Für eine Erwachsene wäre der Verlust einer Freundin schon schlimm, aber wie einsam musste sich ein Kind fühlen.
Sie schluckte und dachte: „Ach, dann hätte ich wenigstens einmal meine Arbeit so gemacht, wie ich es für richtig halte“.
In ihr keimte plötzlich eine ungekannte Freude auf. So also fühlte es sich an, etwas Sinnvolles zu tun!
„Gib Acht, morgen kommt deine Freundin wieder. Sag ihr, dass du es nicht böse gemeint hast, und danach wird alles wieder gut.“
Doch als sie sich zu konzentrieren begann, um Energie zu sammeln, wurde sie von einer fremden Stimme unterbrochen.
„He, alte Mäusefeindin, kommst du mit Hasenfutter sammeln?“
Das Mädchen in der Tür strahlte sie dankbar an, für das Wunder, das sie gar nicht vollbracht hatte.




Christiane Schwarze
Geb. 1960 / lebt in Homberg (Ohm) / ehem. Logopädin in eigener Praxis, jetzt freie Schriftstellerin / Mitglied im VS / zahlreiche Literaturpreise / internationale Künstlerstipendien (Deutschland, Frankreich, Schweden, Schweiz, Spanien, Norwegen ) / zahlreiche Lesungen im In- und Ausland / sieben Bücher, davon drei zusätzlich in Brailleschrift und zwei als Hörbuchversionen für Blinde / fünf musikalisch-literarisch inszenierte Hörbücher (mit ihrem Duo TonSatz) / über 300 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Kunstprojekten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Dänemark, Spanien / www.christiane-schwarze.de






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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