Abgestellt

Jana A. Czipin für #kkl33 „Vollendung“




Abgestellt

Im Krankenhauszimmer versuchte die Stille sich durchzusetzen. Die dicken Isolierfenster sperrten den rauschenden Stadtverkehr aus, doch da war immer noch der rasselnde Atem des Kranken und die Maschinen, die den unruhigen Schlag des kranken Herzens kundtaten. Es war fast so still wie damals in der Abstellkammer, aber nur fast.
Als Junge war er oft in die Abstellkammer am Boden gesessen. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte er eine der alten Schachteln vor seine zusammengeschlagenen Beine gestellt und den Inhalt studiert. Er wusste immer noch ganz genau, was in jeder der Schachteln und Kisten gewesen war.
Er hatte sie unzählige Male durchgesehen. In ihm keimte manchmal Verdacht, er würde schon sein ganzes Leben lang in dieser Abstellkammer sitzen und nachsehen, was in den Schachteln lag. Wenn er draußen durch das Leben ging, war ihm oft wie in einem Traum zumute. Zeitweise war es ein Albtraum.
Dort in der Abstellkammer spielte sich sein wirkliches Leben ab. Nichts tat sich, nichts bewegte sich, wenn es nicht von ihm bewegt wurde. Seine Hände arbeiteten sich systematisch durch die Gegenstände im Karton. Tasteten sie ab, begriffen ihre Substanz, ihre Beschaffenheit, ihre Struktur, ihr Sein.
Leblose Dinge, er war dankbar ob ihrer Stille. Vor der Tür lief das Leben mit unfassbarer Geschwindigkeit ab, hier drinnen kam alles zum Stehen. Er hatte dann Zeit, über das Leben nachzudenken, es sich schön zu träumen.
Durch das kleine, hohe Fenster strömte Sonnenlicht und manchmal konnte er das Geschrei der Kinder auf dem Spielplatz im Hof hören. Er wusste, was sie taten. Fußball spielen oder Radfahren oder Heldengeschichten erzählen. Er wusste es, denn es kam vor, dass er dabei war. Manchmal war er einer von ihnen. Dann träumte er das Spielen, das Herumlaufen, das Lachen. Manchmal vergaß er sogar, dass es die Abstellkammer gab. Bis der Vater ihn am Ohr dorthin zog, hineinstieß und die Tür verschloss. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass Schreien, Weinen oder gegen die Tür schlagen nichts brachte. Der Vater blieb unerbittlich.

Die Jungen in der Nachbarschaft, mit denen er manchmal spielen konnte, bewunderten seinen Vater. Sie fragten ihn, wie viele Verbrecher der Vater schon erschossen habe, oder ob er auch zu Hause eine Waffe trug. Er wurde bei solchen Fragen ganz verlegen. Auf der einen Seite war er stolz, wenn die Jungen glaubten, sein Vater sei wie einer dieser Fernsehkommissare: hart, ehrlich, durchsetzungsstark und immer auf der Seite von Recht und Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite war der Vater ein Polizist, der nicht auf der Seite des Rechts stand, sondern das Recht immer auf seiner Seite hatte.
Aber diese Seite durfte niemand außerhalb der Familie und der eigenen vier Wänden sehen.
Er war glücklich, wenn der Vater fort war. Wenn keine Augen ihn fangen konnten oder eine Hand, überraschend aus dem Hinterhalt, ohne erkennbares Verschulden oder verstehbaren Grund für die Anklagen und Angriffe. Danach war die Stille in der Abstellkammer auf eine seltsame Art und Weise angenehm. Oft tat ihm etwas weh, der Kopf, die Schulter, das Bein, je nachdem, wo die Faust, der Fuß oder der Gürtel getroffen hatte. Manchmal schmerzte der ganze Körper und dann wünschte er sich, er könnte in die Arme seiner Mutter kriechen, und sie würde den Schmerz wegzaubern. Durch irgendein magisches Wort oder eine Berührung einfach zum Verschwinden bringen. Aber sie lag selbst im Wohnzimmer, oder auch im Schlafzimmer am Boden, schluchzend, bittend, blutend. Er hatte gesehen, wie sie durch das Zimmer flog, als wäre sie eine Gummipuppe, aufschlug, anschlug, wie er auf sie eindrosch, bis das Blut kam und die Schwellungen, unter denen er das Gesicht seiner Mutter nicht mehr erkennen konnte. Er bekam seinen Teil ab, wenn er schrie, weinte oder sich gar an den Vater klammerte. Dann flog er mit Sicherheit in die Abstellkammer. In die Stille. Aus dem Leben. Der Vater steckte den Schlüssel zur Abstellkammer immer ein und ging weg, um den Ärger runter zu spülen. Irgendwann verebbte das Schluchzen der Mutter und auch vor der Tür wurde es ruhig. Das war der Moment, in dem er die erste Kiste aus dem Regal zog. Nur um zu sehen, ob immer noch dieselben Dinge darin waren wie beim letzten Mal.
Es kam schon vor, dass er eine Überraschung erlebte. Dann hatte die Mutter etwas umgeräumt, aufgeräumt, weggeworfen oder neu hier abgestellt. Das war wie ein lieber Gruß. Manchmal war etwas anders. Da konnte er richtig glücklich sein. Es war der Beweis, dass Dinge sich ändern konnten. Er wusste, sie würden sich ändern, mussten sich ändern. Er musste nur erwachsen werden. Groß und stark werden, damit er mit der Mutter fortgehen konnte, dorthin, wo der Vater und all seine Polizeikollegen sie nicht zu finden vermochten.

Es kam vor, dass der Vater sich wie andere Väter verhielt. Ihm den Kopf tätschelt oder nach der Schule fragte. Er tat das dann, wenn fremde Leute da waren. Dann spielte der Vater den Guten und tat so, als hätte er nichts mit der fleischigen Faust zu tun, die gegen den Kopf des Jungen oder seiner Mutter klirrte.
Wenn er mit dem Abtasten der Dinge fertig war, wenn es schon Nacht geworden war, und er versuchte, den Hunger zu vergessen, dann träumte er im Halbschlaf davon, wie es später einmal sein würde. Er würde durchs Leben laufen, alles tun, alles erleben, aufsaugen, anfassen, abtasten, so als würde es nur dieses eine Mal geben. Er würde nach immer neuen Dingen mit einer Intensität greifen, die für drei Leben reichte. Wenn der Hunger in seinem Bauch nagte wie ein Tier an einem Kadaver, dann träumt er davon, laufen zu können, einfach loszulaufen, wegzulaufen, zu laufen und niemals mehr damit aufzuhören. Nicht mehr still sitzen zu müssen. Während er jedes Ding wieder zurück an seinen Platz legte und sehnsüchtig nach dem kleinen Fenster sah, träumte er davon, Architekt zu werden und ein luftiges, helles Haus für sich und seine Mutter zu bauen. Ein Haus ohne Türen, ohne Schlösser, wo jeder hinein und hinausgehen konnte, ganz so, wie er wollte. Ein Haus, in dem das Leben nicht ausgesperrt werden konnte.
Wenn die Stille ganz unerträglich wurde, wenn er Angst hatte, dass seine Mutter vielleicht nicht mehr atmete, und er ganz alleine mit dem Vater zurückbleiben musste, dann träumte er davon, ein Vogel zu sein und einfach aus dem Fenster zu fliegen, hinauf in den Himmel, wo ihn nichts mehr berühren konnte. Er wollte nicht mehr da sein, allein am Boden sitzend, einen alten Nagel in der Hand drehend und wendend und manchmal gegen die Haut piksend, nur um zu spüren, ob er noch lebte.
Wenn der Vater heimkam und der Mutter erlaubte, endlich die Tür aufzusperren, fragte sie ihn immer, ob er Milch trinken wolle. So als könnte die reine, weiße Milch alles von ihnen abwaschen. Sie musste sich manchmal auf ihn stützen, um in die Küche zu gelangen. Dann wärmte sie Milch auf, gab Honig hinein und sie saßen zusammen, stumm, nicht mehr als das Notwendigste sprechend. Sie taten, als sei nichts geschehen, als hinge nicht mit der Gegenwart des Vaters eine Gewitterwolke in der Wohnung, die sich jederzeit in einen mörderischen Sturm verwandeln konnte.
Keiner seiner Träume ging in Erfüllung. Auch mit fünfunddreißig war er unverheiratet, hatte keine Kinder und trank zuviel. Auch mit regelmäßiger Arbeit tat er sich schwer. Er wollte sich von keinem etwas sagen lassen und konnte einfach nicht lange genug still sitzen. Auch jetzt hielt es ihn kaum auf dem Sessel, der neben dem Krankenbett aufgestellt war. Er wanderte durch das Zimmer, vom Fenster zur Tür und wieder zurück. Dabei tropfte die Zeit durch eine Kanüle in den Arm des Vaters und verlor sich in seinem röchelnden Atem.
Keiner von der Familie war zu Besuch gekommen, auch er hatte nicht kommen wollen. Seit seine Mutter nicht mehr lebte, sprach er nicht mehr mit dem Vater. Doch der Therapeut, zu dem er seit dem letzten, fast tödlichen Cocktail aus Schlafmittel und Alkohol ging, hatte gesagt, wenn er sich nicht vom Vater in irgendeiner Form verabschiedete, würde er das sein Leben lang bereuen und vielleicht nie mehr aus der Abstellkammer herauskommen. Er setzte sich wieder hin und wartete. Seine Finger tanzten nervös die Oberschenkel auf und ab. Das Kinn zuckte nervös und juckte, er musste sich die ausgetrockneten Lippen lecken. Seit Stunden betrachtete er den sterbenden Vater. Der kräftige, muskulöse Körper hatte sich mit der Zeit in eine schwammige Masse aus Fleisch und Fett verwandelt. Die mehrfach gebrochene Nase hob sich kaum mehr vom Rest des Gesichtes ab. Einen Moment lang fühlte er den Impuls, ein Eisenstange zu nehmen und auf den wehrlosen Körper einzuschlagen, bis nur ein blutiger Brei übrig blieb. Der Gedanke erschreckte ihn. Er sagte sich, dass der Vater ohnehin bald tot sein würde, und er deswegen sein Leben nicht noch mehr versauen musste.
In diesem Moment öffnete der Vater die Augen, und seine Pupillen waren kaum zu sehen. Trotzdem schien da der alte, stechende Blick zu sein. Er war versucht, sich wegzuducken, hielt aber stand.
„Du,“ flüsterte der Vater. Seine linke Hand erhob sich ein wenig und fiel dann kraftlos zurück. Der Sohn dachte, er würde ein Lächeln auf dem Gesicht des Vaters erkennen, aber das konnte natürlich auch Einbildung sein. Er presste die Lippen zusammen, um nicht in das automatische Zurück-Lächeln zu verfallen, mit dem er als Kind versucht hatte, seinen Vater milde zu stimme.
„Möge deine verdammte Seele bis auf alle Ewigkeit in der Hölle schmoren,“ sagte er, als er sicher war, dass der Vater ihn hören konnte. Dann stand er auf und verließ das Zimmer, um ein neues Leben zu beginnen.




Jana A. Czipin, geb. 1969 in Österreich. Studium der Publizistik und Geschichte. Seit 1992 sporadische Veröffentlichung von journalistischen, wissenschaftlichen und literarischen Texte in Literaturzeitschriften, Magazinen, Anthologien und im Internet. Zahlreiche Reisen, seit 2012 wohnhaft in Spanien. Ausübung unterschiedlicher Berufe, zur Zeit tätig als Yogalehrerin, Deutschlehrerin und copy writer.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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