Glashaus

Friede von Westerholt für #kkl34 „Klarheit“




Glashaus

Ich renne, erwische den Bus, als er schon anrollt. Ja! Fühlt sich gut an, wie als Jugendliche. Ein Lachen gluckst in meinem Hals.

Schwanger also.

Darfst du jetzt überhaupt noch rennen, Bernadette?

Mein Spiegelbild im Busfenster: eine doppelte Frau Mitte vierzig, ein bisschen außer Puste, Jeans, dunkle Stehkragenbluse, kurze Haare, markantes Gesicht. Sieht nicht schwanger aus. Auch nicht wie jemand, dem gerade eine Flut von Gedanken, Irritationen, Unsicherheiten durch den Kopf schwirren.

Aber keine Gefühle. Die lauern noch, warten, formieren sich, wissen noch nicht recht, wohin.

Was wird Frank sagen? Jahrzehntelang waren wir uns einig, keine Kinder haben zu wollen, und jetzt, in den Wechseljahren, komme ich von einem Kontrollbesuch vom Frauenarzt heim: „Ach übrigens: Ich bin schwanger.“

Der kluge, verantwortungsvolle Frank – was soll er schon sagen? „Das ist deine Entscheidung, aber ich bin immer für dich da.“

Ja und? Ist irgendetwas daran verkehrt?

Natürlich nicht. Frank, mein hagerer Professor, mein Kamerad mit dem scharfen Verstand, dem sezierenden Blick und der Vorliebe für alles Makabre, der als Einziger stehengeblieben war und die Kröte, die sich noch weiterschleppte, obwohl die Maden ihr schon das Gehirn zerfraßen, fasziniert beobachtet hatte. Während die anderen schreiend wegrannten oder von der Lehrerin weggezerrt wurden, hatte ich mich zu dir gestellt, in Bann gezogen weniger von der Kröte als von deiner gespannten Aufmerksamkeit. Du hattest mir einen anerkennenden Blick geschenkt und – so frech und frei ich damals auch gewesen sein mag – ich hätte den Teufel getan, dir zu gestehen, dass er auf einem Missverständnis beruhte. Die Kröte wurde zum Symbol für unsere verschworene Gemeinschaft, bescherte mir aber noch lange Albträume.

Schwanger.

Bisher nur Selbstverständlichkeiten: aufs Land ziehen, promovieren, in Zeiten imminenter Klimakatastrophe keine Kinder in die Welt setzen. Mit dir leben. Dir intellektuell nicht das Wasser reichen, sozial aber etwas auf die Sprünge helfen. – Ein Kind? Ein unberechenbares Risiko mit chaotischer Sprengkraft.

Als Wissenschaftler gehst du deinen Weg, kompromisslos und trotzdem erfolgreich – ich nicht, Sozialarbeit ist ein Synonym für ständige und stets von Erfolglosigkeit gekrönte Kompromisse. Wenn ich dich aber abends frage, wie dein Tag war, dann lässt du alle Luft aus deinen Lungen entweichen und deine Schultern sacken herunter, als erinnertest du dich an die Pflicht, deprimiert zu sein.

Du hast ja recht, die Menschheit, wie wir sie kennen, wird untergehen. Aber bis es soweit ist, will ich leben. Und wenn ich dir erzähle, ich habe geträumt, ich könne fliegen, dann solltest du aufhören, mir zu erklären, dass ich keine Flügel habe. Und ich sollte aufhören, dann mit meinen Schlappen durchs Haus zu schlurfen und dich damit wahnsinnig zu machen.

„Das wird nicht einfach werden mit Frank“, haben alle gesagt. Aber du warst mein Maß aller Dinge und bist es noch. Trotzdem habe ich manchmal den Impuls zu schreien, wenn ich unbekümmert plappernd oder wütend schimpfend heimkomme und du mit einem halben Satz, ein bisschen Vernunft, ein bisschen Schuldgefühl, mich runterbremst und stutzt, bis ich wieder auf der Schiene vorauseilenden Pessimismus eingenordet bin.

Bernadette, sei nicht ungerecht!

Ich bin vielleicht ungerecht, vielleicht nicht, aber auf jeden Fall schwanger. Und konfus und nicht bereit, mich Frank so zu stellen und vor ihm bestehen zu müssen. Also raus hier, nachdenken, das ganze heillose Durcheinander an Gefühlen zulassen, das langsam in mir aufsteigt. Einfach so denken, nur für mich allein. Der Bus steht gerade an einer Haltestelle und ich drängle mich noch schnell aus der Tür, bevor sie schließt.

Fühlt sich schön an, anarchisch, wie Schule schwänzen.

Was für ein Katalysator, das Wort Schwangerschaft! Heute Morgen bin ich aus dem Haus gegangen wie immer, ohne Fragen, ohne Zweifel, und plötzlich steht alles zur Disposition und das große Aussortieren und Wegwerfen bricht an.

Also, Bernadette, fokussier dich! Willst du dieses Kind?

Ja!

Warum?

Da mach‘ ich mir nichts vor. Ein Kind zu bekommen ist ein Akt puren Egoismus, das Kind kann ja vorher noch nicht leben wollen, aber ich will, dass es lebt, eindeutig.

Langsam fällt der Groschen: wir sind jetzt zu zweit hier drin. Und wir haben beide Lust, mit großen Schritten durch die Landschaft zu laufen.

Behauptest du.

Behaupte ich! Und ein buntes, luftiges Sommerkleid werde ich mir kaufen!

Warum?

Egal, ich hab Lust, eine Schwangere in einem bunten, luftigen Sommerkleid zu sein. Außerdem werde ich mir die Haare wachsen lassen!

Du solltest besser an das Kind denken, an seine Gesundheit, seine Sicherheit…

Vor allem muss ich wieder ich selbst sein, mir zuhören.

Und dann?

Mir treu bleiben!

Ja und dann womöglich noch in dir ruhen.

Womöglich.

Dein Schmunzeln spricht Bände.

Also, was will da gehört werden?

Fragen, die zu lange nicht gestellt wurden. Liebe ich ihn noch?

Ach Frank, ja, ich liebe dich sehr. Aber auf lange Sicht entpuppen sich deine Klarheit und dein brillanter Verstand als fast unmenschlich. Du wägst nicht ab, relativierst nicht, verdrängst nicht, verlangst dir und allen anderen ab, im ständigen Bewusstsein des Todes, der nahen ökologischen Katastrophe, der Sinnlosigkeit zu leben. „Ich bin kein Pessimist, sondern Realist, aber die Realität ist einfach Scheiße“, höre ich dich schon sagen, aber dieses Mal werde ich antworten. Die Welt wird nicht vom Grämen besser, sondern vom Handeln, das aber wäre ein Eingeständnis von Hoffnung und damit einer Schwäche, die du dir nicht zugstehst.

Klar und vernünftig soll man sein – und klar bist du, bewundernswert klar, kristallklar, transparent, indem du dich fokussierst auf „das Wesentliche“ und alles abspaltest und wegkehrst, was du nicht festnageln, definieren und einordnen kannst: das Lieben, das Hassen, das Genießen, das Zweifeln, Schwanken und Fragen, die Grauzonen, Illusionen und Kompromisse. Wir gewöhnlichen Sterblichen machen uns die Hände schmutzig, werden schuldig, lassen fünf gerade sein, sind kreativ, unklar, nebelig, diffus und widersprüchlich.

Zu meinem Leben soll all das gehören, ich will mich nicht in diesem Glashaus verstecken, das vorgibt, transparent zu sein, indem es große Teile des Lebens einfach draußen lässt.

Und ich will wirkliche Liebe von dir, elementare und unbeherrschbare – nicht Pflichtgefühl und Selbstverständlichkeit!

Es muss sich wunderbar anfühlen, das laut auszusprechen!

Du vergisst, meine Liebe: Er ist immer noch derselbe Frank, nur du drehst dich gerade und mit dir dein Blick, aber das ist ja nicht seine Schuld.

Schuld ist hier eh nicht die Frage.

Sondern?

Weiß ich noch nicht.

Ich stelle mir vor, du würdest deine Aufgabe als Vater sehr ernst nehmen und unserem Kind die Welt erklären. Ich sehe dich Dokumentarfilme mit ihm gucken, ihm schwarze Kleider kaufen und ihm die Krötenmaden in lebhaften Farben schildern. Unser Kind würde Albträume bekommen und sie verheimlichen, um deine Achtung nicht zu verlieren. Du würdest ihm schildern, wie die Menschen ein riesiges Aufgebot an Göttern, Bestrafungen, Fegefeuern und Paradiesen auffahren, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, den es nicht hat.

Und plötzlich weiß ich ganz genau, dass ich das nicht will. Unser Kind soll nicht täglich diese bleierne Atmosphäre einatmen; es soll nicht verstummen, weil es dein „Klare Gedanken in klaren Worten, bitte!“ zu hören bekommt, wenn es versucht, Worte für seine Gefühle zu finden.

Ich kann mir nicht vorstellen, mich von dir zu trennen, aber ich will ein anderes Leben und eine andere Wohnung für das Kind und mich. Du sollst ihm deine Geschichten erzählen, aber bei mir soll es Liebe, Luft und Freiheit, Hoffnung und Optimismus kennenlernen.

Heile Welt?

Nein, aber die ganze Bandbreite des Lebens und – ach komm, solange es klein ist, manchmal vielleicht auch ein bisschen heile Welt.

Ich sitze wieder im Bus und die Angst kommt doch noch und nimmt in dem Maße zu, in dem unsere Haustüre sich nähert.

Ich weiß, dass ich stammeln werde, wie immer. Vielleicht werde ich auch richtig laut, so wie früher, als ich noch die Hoffnung hatte, damit eine Reaktion bei dir auszulösen. Vielleicht werde ich auch nur dasitzen und Locken kringeln, was du früher mochtest und dann nicht mehr.

Lieber nicht.

Vielleicht wirst du sagen, ich soll bleiben und ich sei die Liebe deines Lebens, aber es würde sich anhören, als hättest du es dir aus einem Film abgeschaut.

Ich kriege den verdammten Schlüssel kaum in die Haustür und sobald dein Kopf im Flur erscheint, überrolle ich dich mit meiner Wortlawine: „Bitte, lass mich ausreden, sonst schaffe ich das nicht. Ich bin schwanger, ich werde das Kind behalten und ihm und mir eine andere Wohnung suchen, ich will nicht, dass es in dieser tristen Atmosphäre aufwächst, aber ich liebe dich und will mit dir zusammen bleiben. Keine Ahnung, wohin uns das führen wird, aber ich will das Leben mit allen offenen Enden annehmen! Und von dir will ich kein Pflichtgefühl, sondern Liebe, richtige, solche mit Schmackes!“

Ja, es fühlt sich gut an!

Dann weiß ich nicht mehr weiter. Aber eigentlich ist ja auch alles gesagt. Ich halte die Luft an.

Wie versteinert stehst du da, atmest lange aus und sackst in dich zusammen wie ein sich leerender Luftballon.

Dann, ganz allmählich, richtest du dich von innen heraus wieder auf und siehst mich an. Ich weiß nicht, ob dein sachlich-neutraler Blick spontan oder das Resultat einer Anstrengung ist. „Schade, dass du das nicht mit mir besprechen konntest“, sagst du gemessen, „aber mit deinem Vorschlag bin ich einverstanden, er hört sich nach der vernünftigsten Lösung für alle an.“

Du machst eine Pause, holst dann energisch Luft und fügst schnell hinzu: “Aber die Hauptsache ist, dass meine alte Bernadette wieder da ist: frech und mutig und klug!“

Befangen stehen wir voreinander und wissen nicht wohin mit unseren Händen und Augen. Dann steigt ein Lachen zwischen uns auf und wird hin und her geschoben, verlegen, befremdet, kopfschüttelnd, kurz in Ironie und Selbstironie abgleitend, verschämt, befreiend, liebevoll, mütterlich und väterlich, irritiert.

Ungläubig schiebe ich schnell noch hinterher: „Und die Haare werde ich mir auch wachsen lassen!“





Friede von Westerholt wurde 1961 im Vogelsberg geboren und wuchs dort auf, bis ihre Familie erst für acht Jahre nach Genua, dann für weitere drei nach Caracas versetzt wurde. Nach ihrem Abitur dort kehrte sie nach Italien zurück, wo sie arbeitete und Moderne Fremdsprachen und Literaturen studierte, bis sie nach insgesamt 24jährigem Auslandsaufenthalt 1993 in ihren Heimatort zurückkehrte. Nach der Erziehungsphase, in der sie als Fremdsprachensekretärin arbeitete, absolvierte sie ab 2007 den Bachelor und Master in Kindheitspädagogik und war anschließend sowohl als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin, wie auch praktisch pädagogisch tätig.

Publikationen Fachliteratur

  • Neuß, Norbert / Westerholt, Friederike (2010): Elementardidaktik. In: Norbert Neuß (Hrsg.): Grundwissen Elementarpädagogik, Cornelsen Verlag Berlin.
  • Neuß, Norbert / Westerholt, Friederike (2010): Dimensionen didaktischen Handelns. Expertise für die Robert Bosch Stiftung. In: Kasüschke, Dagmar: Didaktik in der Pädagogik der frühen Kindheit, Carl Link, Wolters Kluwer Deutschland GmbH Köln/Kronach.
  • Westerholt, Friederike (2010): Kommunikation im Kindergarten, Beltz Weinheim/Basel.
  • Neuß, Norbert / Westerholt, Friederike / Henkel, Jennifer / Pradel, Julia (2014): Übergang Kita-Grundschule auf dem Prüfstand – Bestandsaufnahme der Qualifikation pädagogischer Fachkräfte in Deutschland, Springer VS Fachmedien Wiesbaden.
  • Westerholt, Friederike (2017): Gemeinsam leben lernen in Hort und Ganztag. In: Neuß, Norbert  (Hrsg.): Kindheit in Hort und Ganztagsschule – sozialpädagogische Herausforderungen, Cornelsen Verlag, Berlin.

Publikationen Belletristik

  • Westerholt, Friede (2017): Sechs Tage Libeccio. Kriminalroman, Edition AV, Lich.

Unveröffentlicht

  • Westerholt, Friede (2022): Quecksilbern. Roman.

In Arbeit:

  • Westerholt, Friede: Windbruch, Roman





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

2 Kommentare zu „Glashaus

  1. Ein richtig schöner Text. Man kann sich gut vorstellen, wie es in der Frau arbeitet. Das Ende gibt Hoffnung. Ich hatte vor kurzem Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ gelesen. Das war so deprimierend. Ihre Geschichte ganz und gar nicht.

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