Die Narbe

Walter Strasser für #kkl34 „Klarheit“




Die Narbe

Lucia steht nackt vor dem Spiegel und betrachtet sich. Sie weiß, dass sie für ihre achtunddreißig Jahre noch ganz gut aussieht. Ein richtiger Männerschwarm, wie man so schön sagt, war sie aber nie. Dazu ist sie einfach zu robust, in beiderlei Hinsicht – Körper und Wesen. Ihren Körper fand sie immer schon etwas zu kräftig. Sie ist klein, dadurch wirkt sie fülliger, als sie mit ihren knapp 55 Kilo wirklich ist. Ein blonder Lockenkopf, ordentlich von einem hellblauen Haarband gebändigt, die Augen braun und von einer unergründlichen Tiefe, die ihrem vollen und markanten Gesicht stets einen ernsten Ausdruck verleihen. Keine dummen und übereilt gestochenen Tätowierungen verunzieren ihren Körper. Da ist sie stolz drauf. Sie lässt den Kopf sinken. Was immer sie in ihrem Leben auch suchte, sie hat es nicht gefunden. Schuld daran ist die Narbe unter ihrem Bauchnabel. Diese Narbe, die sie zeitlebens als einen fest verankerten, sperrigen Haken in ihrem Bauch empfunden hat. Eine immerzu unwirklich bläulich schimmernde Wunde, die nie zu verheilen scheint.

In Verbindung mit dieser Narbe hatte für Lucia das Wort widerlich schon vor langer Zeit eine neue Bedeutung gewonnen. Die Narbe ist das Ergebnis eines so unüberlegten, leichtsinnigen Nachmittags, der ihr Leben für immer verändert hatte. Sie war ein sehr junges Mädchen, voller Träume und Hoffnungen. Wie alle heranwachsenden Leute wollte auch sie die Welt bereisen, neue Leute kennenlernen, Abenteuer erleben. Da drängte sich doch dieser sphärische »ciao bella ragazza« Carlos in ihr langweiliges Leben. Diese heimliche Beziehung war weder innig noch von langer Dauer. Bis sich die ersten Anzeichen ihrer Schwangerschaft bemerkbar machten, war der Vollidiot längst zurück bei seiner dämlichen »Famiglia« in Italien.

Lucias Eltern hätten den Jungen ohne grosse Mühe aufgespürt, aber nachdem sie ihr, in deren typischen  gefühllosen Art, ein Übermaß an Dummheit bescheinigt hatten, weigerte sie sich strikt, seinen Namen bekannt zu geben. Aus purem Trotz.

Nach monatelangem anhaltendem Gefühlschaos und Streit erinnerte sie sich nur noch an das viele Blut überall. Sie hörte die Schreie und die Sirenen.

Was sie nie jemandem erzählt hat: sie ist gehüpft. Gehüpft und gehüpft, ununterbrochen auf und ab gehüpft. Bis zum Schluss, um wegzuhüpfen, was sie keinesfalls gewollt hat. Die Frage, inwiefern ihre gedankenlose Hüpferei schuld daran war, dass sie ihr »bitteres Früchtchen« verloren hat, trägt sie seither in Form dieses sperrigen Hakens schwer mit sich herum.

Lucia dreht sich entschlossen zur Tür und tritt ins Schlafzimmer. Die zitternden Hände hält sie dabei fest über ihren Bauch gestülpt, so als wolle sie für einmal mehr, ihrem sperrigen Haken keine Möglichkeit geben, in ihr Leben einzugreiffen

Das Schlafzimmer liegt im Dunkeln, nur das Licht aus dem Badezimmer wirft einen hellen Schimmer auf das Bett vor ihr. Sie spürt eine beklemmende Angst in sich, es wäre das erste Mal nach einer langen Zeit.    

Mit tapsenden Schritten huscht sie rüber zum Bett und schiebt sich unter die leichte Decke, wo sie bereits  erwartet wird. Eine gutaussehende dunkelhaarige Frau legt ihr Handy beiseit, hebt den Kopf aus den Kissen, blickt Lucia an und lächelt. Zärtlich schiebt sie eine Hand unter Lucias Kinn, zieht es näher zu sich heran und küsst Lucia innig auf die Lippen.  »Keine Angst«, flüstert die Frau an ihrer Seite, »hab keine Angst.«

Die Frau legt ihre warme, zarte Hand auf Lucias Brüste und streichelt sie, lässt sie langsam zu ihrem Bauch hinuntergleiten. Lucia versteift sich sofort und versucht, sich der Hand zu entwinden. Aber diese neugierige Hand ist so weich und warm und dringt ohne Zögern bis zu ihrerm sperrigen Haken vor, wo sie unbeeindruckt verweilt. Sie schiebt Lucias abwehrende Hand einfach beiseite und lässt ihre zarten Fingerspitzen über die verfluchte Narbe gleiten. Diese Finger weichen nicht zurück, wie so viele Finger vor ihnen. Harte männliche, fordernde Finger.

Lucias Augen verschleiern sich. Dicke Tränen laufen ihr aus den Augen. Die verführerische Frau wischt sie mit ihrer Stirn weg und flüstert in Lucias geöffneten Mund: »Ich mag dich mehr, als du vielleicht denkst – alles an dir.« Und sie legt die offene Handfläche auf Sadies Bauch. »Es gibt nichts aus deiner Vergangenheit, wofür du dich schämen musst.«

Das bringt Lucia dazu, sich schwer und voller Erleichterung fallen zu lassen. Sie seufzt tief aus ihrem verborgenen Inneren. Sie hatte all die Jahre so sehr mit sich und ihrem Schicksal gekämpft. Für sie war es unveränderlich. An jenem Nachmittag, der so reizvoll mädchenhaft anfing, verlor sie die Klarheit über ihr zukünftiges Leben. Aber heute Abend, hier in diesem Zimmer, gibt sie den Kampf auf. In dem weichen, kuscheligen, warmen Bett, in den Armen dieser Frau, erlebt Lucia etwas Wunderbares. Hier erfasst sie die Wahrheit in ihrer Einfachheit, die Bedeutung in ihrer Tiefe. Es war nie ihre Schuld oder die des dummen Jungen oder die ihrer Eltern. Ohne noch weiter zu hadern, zu suchen, zu fragen oder zu erwarten, findet sie die Klarheit in sich selbst. 

Sie versöhnt sich nicht mit dem Hässlichen, das da mit der Zeit unter ihrem Bauchnabel zu einem Monster herangewachsen ist. Sie akzeptiert es als Teil von sich, als eine Erinnerung an das, was sie durchgemacht und was sie verloren hat. Sie erkennt ganz einfach, dass sie mehr ist, als diese hässliche Narbe, dass sie eine ganze Person ist, die lieben und geliebt werden kann.  Sie küsst diese Frau zurück, mit Leidenschaft und Hingabe.

Wie knochenlos, so locker und leicht, sinkt Lucia in die Kissen, offenbart sich, zögerlich, indem sie die Hände unter ihren Kopf schiebt. Ein sanftes Stirnrunzeln verdüstert kurz ihr Gesicht. Sie scheint auf etwas Besonderes zu warten. Sie rührt sich nicht, nur ihre Augenlider flattern leicht. Dann ist der Moment gekommen. Mit den Beinen zerrt Lucia die Decke zur Seite, stützt sich auf ihre Ellbogen und als ihre Geliebte mit der Zungenspitze ganz zärtlich über ihre Narbe fährt, lächelt sie dankbar und genießt dieses leichte, köstliche, stimulierende Gefühl der Zuneigung.





Walter Strasser, geboren 1959 in Grünau und besuchte die Pflichtschule in Scharnstein Oberösterreich.

Ich machte eine Ausbildung in der Gastronomie, und war mehrere Jahre im Ausland in diversen Hotels beschäftigt.

Seit über zwanzig Jahren führen meine Frau und ich eine eigene Frühstückpension in Salzburg.

Als Kind, sammelte ich die Bessy Comic-Hefte, die von den Abenteuern einer Collie-Hündin im Wilden Westen erzählten. Ich las sie nicht nur, sondern verwandelte Teile davon in meine eigenen Kurzgeschichten. Sie waren naiv, fehlerhaft und mühsam zu lesen, aber mit kindlicher Leidenschaft geschrieben.

hausammoos@gmail.com







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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