Der Marien-Apfel

Udo Brückmann, für #kkl35 „Erwachen“




Der Marien-Apfel

Die prägnanten Türme der berühmten Fürstabtei Sankt Gallen waren schon von Weitem zu sehen. Man schrieb das Jahr 988. Viele Händler aus Nah und Fern, die aus allen Himmelsrichtungen zu Fuß, zu Pferde oder vollbeladen mit Karren und Esel auf den malerischen Ort zuströmten, erkannten in den Zwillingstürmen ihr angestrebtes Ziel, das von Weinbergen umgeben war. Bauern, Handwerker und Kaufleute begannen ein paar Tage vor dem Osterfest in den frühen Morgenstunden mit dem Aufbau der ersten Holzbuden und Verkaufsstände auf dem neuen Marktplatz, der sich zu Füßen der ehrwürdigen Basilika langsam füllte.

Die Schaulustigen interessierten sich besonders für ein orientalisch anmutendes Spitzdachzelt aus bordeauxroten Stoffbahnen, die auf Holzverstrebungen gespannt und mit Schnüren verknotet waren. Als dann zwei muskulöse Männer eine Sänfte mit geschlossenen Vorhängen über den Platz trugen, ging ein Raunen durch die Menge. Einige der Anwesenden steckten die Köpfe zusammen und tuschelten; andere sagten laut, was sie dachten.

»Ist sie da drin?« – »Es heißt, sie habe magische Kräfte!« –

»Sie verbirgt einen Pferdefuß!« Und so weiter.

Die Sänfte wurde neben dem dunkelroten Zelt in der Nähe der Fürstabtei abgesetzt. Die beiden Männer zogen grimmige Gesichter und verschränkten die Arme, während die Tür der Sänfte mitsamt der Vorhänge zur Seite schwang. Die Hälse der Schaulustigen reckten sich. Direkt vor ihnen auf den geklinkerten Steinen des Marktplatzes präsentierte sich nun eine hübsche junge Frau mit langen, braunen Haaren und einem üppigen Dekolletee. Ihr orientalisches, aus blauen Stoffen geschneidertes Gewand war mit Edelsteinen besetzt, die in der Sonne funkelten.

Die junge Frau legte lasziv den Kopf in den Nacken, streckte beide Arme gen Himmel und sprach: »Ich bin Theophania, die aus einem fernen Reiche zu euch kommt! Ich zeige euch, dass die Wunder Jesu zwar viel Können verlangt, aber am Ende doch von jedem von euch zu bewerkstelligen sind, wenn nur euer Geist dazu bereit ist.«

Nicht wenige der Umherstehenden rissen die Augen auf. Wie konnte sie es wagen? Das war eindeutig Blasphemie! Und das in aller Öffentlichkeit vor einem päpstlich geweihten Gotteshaus.

»Beruhigt Euch wieder, ihr lieben Leute und zürnet mir nicht«, sprach Theophania besänftigend. »Ich habe nichts Böses im Sinn. Ganz im Gegenteil! Ich bin nur zu eurem Vergnügen hier.«

»Wie können wir da so sicher sein?«, war eine Frage aus dem Publikum, das sich zusehends vergrößert hatte.

Das Interesse war jetzt ganz auf Theophania gerichtet, die nicht nur dem Namen nach, sondern auch optisch Ähnlichkeit mit der Kaiserin Theophanu hatte, der Gemahlin des verstorbenen Kaisers Otto II., welche einst als byzantinische Prinzessin aus Konstantinopel an den Hof nach Magdeburg gekommen war und nun als mächtigste Frau Europas galt. Ihr vorbildlicher Lebenswandel, ihr politischer Ehrgeiz und ihr diplomatisches Geschick prägten ein neues Frauenbild, das insbesondere dem Klerus ein spitzer Dorn im Auge war.

»Ihr gehört dem zerbrechlichen Geschlechte an«, sagte ein Mönch, der sich in die hitzige Debatte einschaltete, als müsse er seine Berufung verteidigen. »Und Ihr seid nicht Christus! Darum hütet Eure Zunge. Was könnt Ihr im Geiste unseres Herrn schon Großes verändern, Theophania? Brot vermehren und Wasser in Wein verwandeln?«

»Findet es heraus!«, lachte die junge Frau mit einer Spur von Provokation in der Stimme und gab ihren beiden Beschützern ein Zeichen.

Für eine kleine Spende«, so die junge Frau an die Schaulustigen, »bekommt ihr von mir das, was ihr sehen wollt! Bernardo zu meiner Linken wird euch mit Vergnügen um ein paar Silberlinge erleichtern. Oder ihr bezahlt in Naturalien.«

Bernardo holte nun einen gefüllten Jutesack aus dem Zelt und öffnete ihn.

»Wer seinen Tribut hinterlassen hat«, so Theophania weiter, »erhält als Gegenwert einen der Jungfrau Maria geweihten Apfel.«

»Macht Mus daraus!«, protestierte eine der Mägde lauthals.

Doch der Großteil der Menge schien vor Neugier zu platzen! Den Anfang machte ein Bäcker, der sich von seinem Stand einen Laib Brot schnappte, mit einem weiteren als Zahlungsmittel aufwartete und – mit einem roten Apfel aus der Hand von Bernardo – das Innere des bordeauxroten Zeltes betrat. Theophania, die hinter einem mit Schnitzereien verzierten Tisch saß, hieß den Bäcker auf einen bereitgestellten Schemel Platz zu nehmen.

Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und ließ beide Hände über dem Laib Brot kreisen, welches vor ihr auf dem Tisch lag.

Es war so, als würden die Funken eines Sternen-Regens den Raum wie in einem glitzernden Nebel erfüllen, welcher langsam wieder abklang. Der verunsicherte Bäcker bekreuzigte sich gleich mehrmals hintereinander, als das fantastische Spiel wieder der vermeintlichen Realität wich: Vor ihm lagen wohl an die vierzig Brote, die exakt so aussahen wie der ursprüngliche Laib!

»Es ist der Leib Christi, es ist also wahr«, murmelte er nur, raffte so viel er konnte davon zusammen und verließ triumphierend damit das Zelt. Die Schaulustigen draußen auf dem Marktplatz wurden von dem Ereignis mitgerissen, aber nicht alle applaudierten oder jubelten. Für die Zweifler unter ihnen war eindeutig Zauberei im Spiel, für sie wurden hier die Mächte der Finsternis heraufbeschworen.

Als Nächster kam der besagte Mönch an die Reihe, der sich in seiner Ehre verletzt fühlte. Er tauschte sogar einen goldenen Ring gegen einen roten Marien-Apfel. Misstrauisch betrat er nun das Zeltinnere. Die junge Frau goss dem Priester etwas Wasser in ein hölzernes Trinkgefäß.

»So wie es aussieht, habt Ihr vor lauter Angst einen trockenen Hals, doch wartet noch einen Moment«, warf Theophania ein, »bevor ihr Euren Durst löscht, solltet Ihr Euch nicht mit einfachem Wasser zufrieden geben. Das ist doch etwas für Tiere.«

Wieder ließ die hübsche Frau beide Hände kreisen und hatte dabei natürlich das Trinkgefäß im Visier. Kleine Kugelblitze schossen aus der Flüssigkeit nach oben unter die Stoffbahnen.  

»So«, sagte Theophania nach einer Weile, »jetzt probiert einmal einen vortrefflichen Schluck!«

Der Mönch nippte an der nunmehr rötlichen Flüssigkeit und musste sich zu seiner großen Überraschung eingestehen, dass es tatsächlich Wein war, der in diesem Augenblick seine durstige Kehle hinunterrann! Stumm und mit versteinertem Blick eilte er aus dem Zelt in Richtung Kloster.

Es dauerte fast den ganzen Nachmittag, bis der Jutesack mit den roten Äpfeln – bis auf einen – geleert war. Viele Menschen in Sankt Gallen, die einen Apfel getauscht hatten, glaubten insgeheim an ein Wunder, dass ihnen als göttliches Zeichen gesandt worden war. Für die einen eine Ehre, für die anderen ein Fluch.

Schließlich begab sich der Reichsfürst und Abt persönlich als letzter Kandidat in »das Zelt der Zauberin, so wie er es selbst beschrieben hatte. Kunrhadt II. sah sich und die prunkvolle Institution, die er stellvertretend vertrat, höchst alarmiert! Jede Form von Machtverlust galt es ohne jede Rücksichtnahme entgegenzutreten.

Die zwei Beschützer von Theophania waren derweil in ein nahe gelegenes Wirtshaus eingeladen. Beide wurden in einem Nebenzimmer mit Eisenhut vermegtem Wein vergiftet und so auf heimtückische Weise aus dem Weg geräumt.

Als die junge Frau dem Reichsfürsten unter vier Augen den letzten roten Marien-Apfel persönlich überreichte, nahm er ihn an sich und rümpfte dabei die Nase.

»Ich bin hier auf keiner Mission«, entgegnete Theophania, »so wie ihr es seid. Ich demonstriere den Menschen lediglich, dass die Materie den Gesetzen des Geistes unterliegt. Ohne Strafe und ohne Blutvergießen.«

Kunrhadt lachte laut auf. »Was kann altkluges Weibervolk denn schon Gescheites ausrichten?«

»Ihr irrt Euch gewaltig, mein hoher Herr!« Theophania hielt dem herausfordernden Blick ihres Gegenübers stand. »Wir Frauen sind es, die das Leben in uns tragen und nicht die Sünde. Ich habe gelernt, zuerst den Geist und dann die körperliche Welt zu beherrschen. Weiter nichts.« 

Genau in diesem Augenblick schwebte die junge Frau etwa zwei Meter über dem Boden und erreichte schließlich in ihrer Levitation mühelos das dunkelrote Zeltdach. »Es ist nur eine Spielerei«, kommentierte sie ihren ungewöhnlichen Zustand. »Lediglich die Gesetzmäßigkeiten der Natur sind außer Kraft gesetzt.«

Kunrhadt schien zu einer Salzsäule erstarrt, doch das blanke Entsetzen ließ ihn gleich wieder handeln. Mit beiden Armen bildete er ein Kreuz und hielt es wie zur Abschirmung in Augenhöhe über seinen Kopf. »Das ist Teufelswerk!«, schrie er wie von Sinnen, sodass die Schlagader an seinem Hals wie eine Schlange hervortrat. »Es sind die Mächte der Finsternis, die Eurem Geist gehorchen! Weichet von mir!«

Theophania wurde verhaftet und im Kerker der Fürstabtei grausam gefoltert. Im Namen Gottes, im Namen Jesu Christi. Das Urteil wegen Hexerei wurde sogleich am Ostertag vollstreckt, auf dem eigens dafür errichteten Scheiterhaufen auf einem abgelegenen Platz weit vor den Toren der Stadt.

Erst am nächsten Morgen machte sich Kunrhadt ein Bild von der Lage und atmete erleichtert durch. Als er im Begriff war sich umzudrehen, um voller Genugtuung wieder zurück in die Fürstabtei zu gehen, griff er nichtsahnend in die vordere Tasche seines Gewandes und zog zu seiner Verwunderung den roten Marien-Apfel hervor, den er aus Theophanias Händen empfangen hatte. Als ob es sich um ein Beweisstück für ein Verbrechen handelte, warf er den Apfel wie in einem Reflex auf den ausgebrannten Scheiterhaufen, als handele es sich um eine tote Ratte.

Einige Monate vergingen und es kam der Tag im Sommer, als aus dem einstigen Scheiterhaufen der Theophania ein winziger Apfelbaum-Sprössling schoss und mit den Jahren unbeobachtet in den Himmel wuchs. Und weit bis über die Landesgrenzen hinweg sollte es nicht der einzige bleiben.




Udo Brückmann, geb. 1967, lebt als Autor, Dozent und Coach im ländlichen Niedersachen. Zahlreiche Veröffentlichungen: Romane (Fantasy, Krimi, Historie), Kurzgeschichten, Lyrik, Gedichte für Kinder u.a. Alle Infos auf der Webseite www.udo-brueckmann.de






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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