Verrat

Thyra Thorn für #kkl36 „Anarchie“




Verrat

Am Tag des Verrats war der Bach blau. Nicht, weil sich etwa der wolkenlose Himmel in ihm spiegelte, sondern weil Luisa ihre Pinsel und den Farbeimer im Wasser auswusch.

Jeder im Viertel tat das Seinige, um den kleinen Wasserlauf in ein stinkendes Rinnsal voller Seifenlaugen, Schmierölen, verwesenden Früchten, Gemüse- und Fleischresten zu verwandeln und so wälzte sich eine Melange verschiedenster Abfälle durch das kleine Tal nahe Barrancabermeja, oder Baranca, wie die Einheimischen die kolumbianische Benzin-Hauptstadt nennen. Folgte man der Kloake weiter, gelangte man zu den gewaltigen Raffinerien, deren Türme und Förderanlagen wie abgestorbene Riesenbäume in den Himmel ragen.

Am Vormittag hatte Luisa Salvatore M. aufgesucht. Er gehörte zum Bloque Central, der lokalen Organisation der AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) und hatte beim Aufstand in den neunziger Jahren ihren Bruder angeworben und ihm ein Motorrad verschafft. Mehr noch, Salvatore hielt seitdem seine schützende Hand über die Familie. Luisa nahm daher das Foto, das sie so lange aufbewahrt hatte und legte es dem Comandante der Paramilitärs auf den Tisch. Wieder zuhause mischte sie Coelin 105 in die weiße Wandfarbe und strich den Sockel des Busterminals, in dem ihre Familie seit Generationen den Reisenden Tickets verkauft, himmelblau.

Es begann an einem der trüben Abende, an denen nur der orangene Schein des abgefackelten Öls dem grauen Himmel einen Hauch von Farbe verlieh. Die Konturen der Hütte am gegenüberliegenden Ufer des Baches verschwammen im öligen Dunst, der die Hemdkragen der Männer binnen kurzem schwärzte und das Atmen schwer machte. Luisa wartete am Fenster, bis sie die kleine Bewegung mehr ahnte als wirklich wahrnahm. Ein dunkler, kaum merklicher Schatten drückte sich langsam die Mauer entlang, dann hoben sich die Umrisse eines schlanken Mannes kurz gegen den warmen Kerzenschein ab, als Madi die Tür öffnete.

„Das muss er sein“, dachte Luisa und wartete noch ein wenig, um sicher zu sein, dass dem Fremden keiner gefolgt war. Sie missbilligte die Unvorsichtigkeit ihrer Schwester, diese kopflose Heißblütigkeit, diese stete Bereitschaft, sich vorbehaltslos in jede neue „große Liebe“ zu stürzen, als wäre sie das Einzige auf der Welt, wofür es sich zu leben lohne. Und doch genoss sie die Erregung, die das Leben ihrer Schwester erfüllte, den taumelnden Libellenflug auf schwirrenden Flügen und die Bruchlandung, bei der mit grausamer Regelmäßigkeit Herz und Flügel in Stücke brachen. Luisa war Zuschauer. Sie beobachtete nicht nur das Leben ihrer kleinen Schwester Magdalena – sie nannte sie Madi – aus sicherer Entfernung, sondern sah insgesamt dem Leben, auch ihrem eigenen, von einer gehobenen Position kühler Distanz zu. Luisa war bestenfalls darauf gespannt, was das Leben ihr an Theateraufführungen, an Komödien oder Dramen zu bieten hatte.

Diesmal würde es wieder ein Trauerspiel werden. Zur Neugier gesellte sich ein mit Furcht gemischter Nervenkitzel, denn Madi hatte etwas von politischem Widerstand erzählt. Vor Luisas geistigen Augen tauchten die Bilder getöteter Guerilla – Sympathisanten auf, die man in den Straßen an den Füßen aufgehängt und wie Vieh hatte ausbluten lassen.

„Der Galán sollte lieber verschwinden, bevor es jemand merkt“, dachte sie, sprang über den stinkenden Bach und klopfte leise an Madis Tür.

Hola, ahí está la hermana mayor.“ Jacobo musterte ihr Gesicht auf der Suche nach geschwisterlicher Ähnlichkeit, ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten und blieb an den alten Hausschuhen hängen, die sie schnell übergestreift hatte: „Du bist also die große Schwester.“

„Von jenseits des Baches“, sagte Luisa lahm.

„Wir wohnen praktisch zusammen“, Madi legte ihren Arm um ihre Schwester, „sie passt auf, dass mir nichts passiert.“

Er nickte und strich über seinen sorgsam gestutzten Oberlippenbart. Trotz seines zerknitterten khakigrünen Overalls – offenbar Arbeitskleidung – wirkte er sehr gepflegt, schmückte sich mit einem schmalen schwarzen Seidenschal, die Kanten seines Kinnbartes schienen mit dem Lineal gezogen, die Haare halblang, der Scheitel akkurat. Seine Locken wiesen genau den Grad an Widerspenstigkeit auf, der lauernde und nur mühsam gebändigte Leidenschaft vermuten ließ. Die Bewegung von Daumen und Zeigefinger über den Bart, langsam, wie in Zeitlupe, wirkte gedankenverloren, fast lasziv. Luisa starrte auf seine Unterlippe, besann sich, riss sich los, ihr Blick wanderte über die scharf geschnittene Nase nach oben und landete in zwei dunklen, fast schwarzen Augen, in denen spöttische Funken glommen.

„Ich habe etwas zu trinken mitgebracht“, rettete sie sich in Geschäftigkeit, schälte sich aus der Umarmung ihrer Schwester und fingerte drei Flaschen Aguila aus ihrem Beutel.

„Mach doch bitte das Bier auf.“ Madi reichte Jacobo den Öffner und strich ihm leicht über seine Haare. Eine kleine vertrauliche Geste, die von gemeinsamen Nächten sprach, von zärtlicher Verbundenheit, Vertrautheit, die aber gleichzeitig gegenüber der Schwester das Terrain absteckte und unmissverständlich ihren Anspruch auf den Mann anmeldete. Damit war das Wesentliche gesagt.

„Ich liebe ihn“, gestand Madi am nächsten Morgen. Sie sagte es anders als sonst, leiser, zögernder, als wäre sie selbst erstaunt.

„Er ist ein Guerillero, ein outlaw. Du hast da sehr romantische Vorstellungen – Jungmädchenträume.“

„Aber er hat recht, man muss weiter kämpfen.“

„Und das kannst du so gut beurteilen?“, fragte Luisa spöttisch.

„Warte nur ab, was mit den FARC – Kämpfern passiert, wenn sie ihre Waffen abgegeben haben. Erinnerst Du dich noch an die Movimiento 19 de Abril? Nachdem sie ihre Waffen abgegeben hatten, wurden tausende von ihnen hingerichtet.“

„Er ist also beim ELN, beim Ejército de Liberación Nacional? Was will er in Baranca?“

Madi zuckte mit den Schultern: „Besorgungen, Besprechungen – er hat es mir nicht gesagt.“

„Er hätte in den Bergen bleiben sollen. Er wird uns Unglück bringen“, entgegnete Luisa, „hier unten kann uns nur Salvatore helfen.“

„Hier unten ist uns doch schon lange nicht mehr zu helfen“, entgegnete Madi.

Die Liebe blühte. Madi legte ihre mädchenhafte Koketterie ab, dieses unterwürfig aufreizende Verhalten gegenüber jedem Mann, ob jung oder alt. Sie war ja weg vom Heiratsmarkt. Die Ernsthaftigkeit, die sie als Kind auszeichnete, kam wieder zum Vorschein, sie sorgte sich um Luisa, hielt Verabredungen ein und arbeitete verlässlich im Busoffice.

Trotzdem begann die Ahnung kommenden Unheils Luisa zunehmend zu quälen. Der ELN würde seine Waffen nicht abgeben und sich nicht mit dem Regime arrangieren. Das Misstrauen gegenüber dem System saß zu tief. Jeder wusste, wie eng die Armee mit den paramilitärischen Einheiten zusammenarbeitete und wie tief sie im Drogengeschäft verstrickt war. Unter dem Schlagwort „gesellschaftliche Säuberung“ wurden Zivilisten gefoltert und getötet, nur weil sie einer Gewerkschaft angehörten oder zur falschen Zeit ein falsches Wort sagten. Frauen wurden vergewaltigt, einfach nur, weil sie weiblich waren. Und ganz bestimmt wurde jeder ermordet, der mit der Guerilla, insbesondere mit der ELN sympathisierte. Alle im Departamento de Santander wussten, wo die Paramilitärs ihre Krematorien errichtet hatten, um die enorme Anzahl der Leichen systematisch zu beseitigen.

Madi lud ihre Schwester wieder zu einem Abendessen ein: „Jacobo und ich haben dir was mitzuteilen.“

Luisa wusste, was es war: „Ich will es nicht hören.“

„Ich werde mit ihm gehen“, verkündete Madi.

„Und ich bleibe allein?“

„Komm mit“, sagte Jacobo und blickte von den Papieren auf seinem Schoß auf, wichtige Papiere, Pläne, revolutionäre Unterlagen. Sein rechter Arm lag in Gips, in der anderen Hand hielt er eine halbgerauchte Zigarette. Er sagte es beiläufig, als ob es ihn nicht besonders interessiere.

„Um den Rest meines Lebens in den Bergen zu verbringen? Inmitten von Gefechten, in einem verminten Land, Dreck, Armut, Hunger, Regen, kein dichtes Dach, immer in der Gefahr, das Leben zu verlieren, zum Krüppel geschossen zu werden?“

„Um für die Freiheit zu kämpfen, für die campesinos, für die Armen und Unterdrückten.“

„Und Du Madi“, wandte sich Luisa an ihre Schwester, „glaubst du wirklich, dass es ein Leben für euch zwei gibt, eine Familie, Kinder, normale Arbeit?“ Sie wartete die Antwort nicht ab: „Ich sage dir, die gibt es nicht. Für keinen von uns. Wir würden immer wieder alles aufgeben und weiterziehen müssen, weil die Armee uns auf den Fersen wäre. Auf uns wartet in den Bergen nur ein überaus schweres Leben und irgendwann der Tod.“

„Vielleicht – aber was haben wir hier?“, hielt Madi dagegen, „wir rackern uns ab und haben weder genug zu essen, noch ein anständiges Dach über dem Kopf, weder reines Wasser noch saubere Luft. In den Bergen werde ich Gemüse anbauen oder Reis oder Yuca oder Zuckerrohr für Panela. Wir werden den Indigenas helfen.“

„Und dann werden sie den Eingeborenen Rum geben und irgendein betrunkener Yukpa wird den Paramilitärs unseren Aufenthaltsort verraten.“ Luisa war außer sich vor Zorn und Angst. Später, als keiner hinsah, schaltete sie das Blitzlicht aus und schoss mit dem Handy ein paar Aufnahmen von Jacobo.

In einer weiteren dunklen Nacht, in der öliger Qualm schwer auf den Häusern lastete und der Schein einer Taschenlampe nur wenige Zentimeter die Schwaden durchdrang, klopfte es an Luisas Tür.

„Jacobo?“

Der Mann hob seinen rechten Arm: „Schau, der Gips ist endlich ab, Bier habe ich auch, aber deine Schwester ist nicht zu Hause.“

„Komm rein“, hörte sich Luisa sagen, ganz leise, denn ihr Herz schlug schon so laut, dass es eigentlich jeder im Viertel hören müsste.

Er musterte sie spöttisch: „Keine Angst. Nur auf ein Bier.“

Sie kamen nicht einmal dazu, die Flaschen zu öffnen. Unter dem zerknitterten Overall spannte sich bronzefarbene Haut über sehnigen Armen. Die Haare auf seiner Brust mündeten in einen schmalen Strich, der zwischen den Bauchmuskeln seinen Weg fand und sich zu einem Feld schwarzer widerspenstiger Locken rund um sein aufragendes Glied erweiterte. Später verband er ihr die Augen mit dem schwarzen Seidenschal und Luisa überließ sich der köstlichen Unterwerfung unter den starken männlichen Willen des Gesetzeslosen und wurde von einer Woge aus Lust und Abenteuer erfasst.

„Es gibt zwei Kakerlaken im Kürbis, Armee und Paramilitär. Um sie alle zu erwischen, brauchen wir auch Mitarbeiter in Zivil“, sagte Jacobo, als sie hinterher entspannt in seinem Arm lag und eine Zigarette mit ihm teilte, „du hast doch Verbindungen zur AUC.“

Der Himmel voller Liebe spuckte Luisa aus. Sie zerschellte auf steinigem Boden: „Und Madi?“

„Madi geht mit mir in die Berge.“

„Was soll ich tun?“

„Personenminen – wir nennen sie „Pfotenbrecher“.“

„Ich soll die lokale Abteilung der Paramilitärs in die Luft jagen?“

„Ja.“

„Und mich gleich mit?“

„Nein, natürlich nicht, mi corazon. Sei vorsichtig.“

„Ich frage dich nicht, wo du diese Aufnahme gemacht hast“, sagte Salvatore am Tag des Verrats. Vor ihm lag eines des Handyfotos, „ich frage dich auch nicht, welcher Art dein Verhältnis zu diesem Mann ist.“

Luisa nickte dankbar.

„Seid nicht zuhause, du und deine Schwester, wenn wir ihn töten. Meine Männer erschießen alle in seinem Umfeld.“

„Ihr werdet ihn bestimmt nicht foltern?“

„Ich gebe dir mein Wort“, versicherte der Comandante der AUC, „er wird schnell und sauber hingerichtet und weggebracht. Keiner wird fragen.“

„Ihr kennt ihn?“

„Jacobo ist einer der meist gesuchten Mitglieder der Ejército de Liberación Nacional. Un reclutador de la guerrilla, er wirbt neue Mitglieder für die Guerilla an. Es ist für uns ein großer Erfolg.“

Luisa versuchte sich in einem dünnen Lächeln.

„Wir werden seine Leiche in den Rio Magdalena werfen. Wer weiß, wo sie angespült wird.“

Der Bach ist wieder schmutzig braun. Madis Hütte ist verlassen. Am Tag nach Jacobos Hinrichtung packte sie wortlos ihre Sachen und ging in die Berge zur Guerilla. Luisa stellt eine weiße Leinwand auf die Staffelei, klemmt eines der Fotos an den Rand und beginnt zu malen. Sie kann mit Farben umgehen, ist aber – wahrscheinlich zu ihrem Glück – nicht sehr talentiert. Die Ähnlichkeit ist nicht groß. Das Bild hängt sie im Office auf. Zwischen ihr und Jacobo liegt ein breiter Streifen Coelinblau. Vielleicht ist es der Bach, vielleicht trennt sie mehr als das, – Sphären, Welten, Madi, ein ganzer Himmel…





 

Thyra Thorn ist Ethnologin (M.A.), bildende Künstlerin  und Autorin, seit 2016 Mitglied im deutschen Schriftstellerverband. Sie schreibt für österreichische, deutsche und schweizerische Literaturzeitschriften und Kulturjournale. Ihr Roman: „Luxus?“ ist im April 2022 im PänK Verlag herausgekommen.Ihr aktuelles Buch “ Drei!“, mit Zeichnungen von Edgar Piel ist ebenfalls im Pänk Verlag erschienen.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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