Im Augenblick

Raven E. Dietzel für #kkl37 „Präsenz“




Im Augenblick

Wieder die Augen. Wenn sie in regelmäßigen Abständen herüberrollten, konnte ich sehen, wie sich die Pupillen darin verengten, als meine fokussiert wurden. Eine geschmolzene Sekunde Stillstand harrte ich aus, dann waren sie wieder fort. Noch einmal versuchte ich in das Gespräch einzusteigen, dem ich beistand.

„… der Zeitbegriff bei Augustinus … „ … das schient mir soweit plausibel …“ „… Weltall nicht als Raum sondern als Geflecht von Orten …“ Die Phrasen wechselten zwischen zwei Punkten, die die Grundseite eines Dreiecks begrenzten, in dessen stummer dritter Ecke ich stand. „… eine interessante Verbindung, die habe ich bisher gar nicht gesehen …“

Dann waren sie wieder bei mir. Kleine gesprenkelte Flächen in der Mitte der weißen Wölbung. Der Mund darunter bewegte sich, die Labialmuskulatur formte Beweise des Bildungsstands und der Autorität. In der plötzlichen Stille starrten mich dazwischenher Zähne an. Als zog auch ich die Mundwinkel breit, nahm ein Nicken zur Ausflucht, den Blickkontakt zu brechen.

„ … auch, ich komme gar nicht hinein, haben Sie nicht eine Empfehlung? …“ „… am Besten fangen Sie mit dem Anfang an …“ „… also wirklich mit dem ersten Kapitel? Ich hatte die Empfehlung gehört, für den ersten Einblick hineinzublättern …“ „ … fangen Sie am Anfang an, und wenn Sie nicht mehr weiterkommen, lassen Sie sich nicht entmutigen, blättern Sie zweihundert Seiten weiter …“

Lachen hallte aus zwei Winkeln der geometrischen Form, ich lachte mit, nickte heftiger. Nicht bloß Mimesis war das, der Witz hatte mich angeblinzelt und an den klammerte ich mich wie an einen Rettungsring. Die Kultivierung des rhythmischen Zwerchfellkrampfes waren die einzigen Laute, die ich hervorbrachte, denn sie mussten nicht vorbei am Gefängniswärter in meinem Kopf. Doch wie sollte das Lachen glaubwürdig sein von jemandem, der ansonsten schwieg? Mahlsteine schwebten in meinem Blickfeld; gigantische gelbweiße Blöcke und darüber zwei Augen, aus denen gallertartig Intelligenz quoll. Wie geschmolzenes Wachs zum Ausloten einer Form tastete sie über die Außenkanten meiner Existenz. Plötzlich spürte ich meine eigene Kleinheit, wusste mich dunkel, unförmig, verschrumpelt, wie etwas, das man auf dem Wohnzimmerteppich liegen sah und für eine aus Katzenfell abgefallene Zecke hielt.

Die Katze, an deren Blut ich mich vollgesaugt haben sollte, nahm das Wort wieder auf. „ … bin mir auch immer nicht sicher, ob die mathematischen Analysen als Metaphern gemeint sind …“ „ … habe auch noch nie jemanden sagen hören, sie wären falsch …“ „ … zum Kanon, aber ich habe meinen Grad ja nicht hier gemacht …“ „ … deshalb vor einigen Jahren als Seminar angeboten …“

Nun kam der Blick nicht mehr zu mir herüber. Die Erleichterung, mit der ich das begriff, war das Luftpolster der Verzweiflung, die das eigentlich in mir auslöste. Wenn die Augen nicht mehr hersahen, wie sollte ich da beweisen, dass ich aus keinem Fell gefallen war, keine Zecke, vielmehr eine Rosine, die am falschen Ort, im falschen Licht verwechselt werden mochte. Bar aller Flüssigkeit verklebte der halbkristallisierte Zucker, verklebten die Gedanken meinen Sinn. Ich wollte meine philosophische Ausbildung erwähnen. Ich wollte über meine Leseversuche im besprochenen Werk sprechen. Ich wollte die Inspiration durch den Vortrag zum Ausdruck bringen.

Ich wollte sagen, dass man sich nicht täuschen lassen durfte, dass ich doch die ganze Zeit in Gedanken mitsprach. Aber das konnte ich nicht sagen, denn ich konnte gar nichts sagen.

Ich wollte mich umdrehen, wollte loslaufen, an Geschwindigkeit gewinnen und mit dem Kopf gegen eine Wand krachen.




Raven E. Dietzel (*1995) schreibt über den und die Menschen und was sich dazwischen abspielt. Studierte Philosophie, Germanistik und Linguistik in Bielefeld und Erfurt, promoviert an der Bauhausuniversität in Weimar in Medienphilosophie. Zahlreiche literarische Veröffentlichungen diverser Gattungen und Genres in Anthologien, zudem auf Internetseiten, auch Schaufensterscheiben und an einem literarischen Wanderweg. Ein paar kleine Auszeichnungen waren auch dabei. Liest gern vor Publikum, beteiligt sich auch an ungewöhnlichen Formatenschätzt und schätzt den Austausch in Schreibgruppen. Aktuell arbeitet die von ihr begründete Erfurter Gruppe EPOS an einer Anthologie mit Texten aus den ersten zwei Jahren. Mehr dazu bald auf redietzel.de






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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