Das Versprechen

Alexander Esser für #kkl39 „Hinter der Zeit“




Das Versprechen

Ich sitze am Sterbebett meiner Oma. Heimlich. Denn eigentlich darf ich sie nicht besuchen. Unsere Familie ist seit Langem in zwei Hälften geteilt.

„Was hätte ich denn tun sollen?“, fragt mich meine Oma kaum hörbar. Ihre Stimme ist vom Alter gezeichnet, und von Verzweiflung.

Vielleicht saß meine Tante Elisabeth damals ganz ähnlich an der Seite meiner Oma. Damals, vor 16 Jahren. Und vielleicht klang die Stimme meiner Oma ähnlich verzweifelt.

Die letzte Schulstunde ist ausgefallen, doch das habe ich niemandem verraten. Ich habe diese 45 Minuten genutzt, um heimlich bei meiner Oma vorbeizurennen. Von der Schule, durchs Dorf, zu meiner Oma.

In unserem Dorf scheint die Zeit vor 30 Jahren stehengeblieben zu sein. Die Hauptstraße führt einmal quer durch den Ort, ab und zu zweigt eine kleine Gasse ab. Die meisten Einwohner verdienen ihr Geld mit Landwirtschaft. Tag für Tag fahren sie mit ihren Traktoren auf die umliegenden Felder. Natürlich wird hier Dialekt gesprochen. Wer Hochdeutsch spricht, wird komisch angeschaut und als hochnäsig abgestempelt.

16 Jahre zuvor:

„Natürlich pflege ich dich“, wird Tante Elisabeth gesagt haben, „aber ich muss irgendwo wohnen. Ich brauche das Haus.“

„Du sollst das Haus haben“, antwortete meine Oma – obwohl sie das Haus längst meinem Vater Paul versprochen hatte. Dies war der Moment, in dem meine Oma unsere Familie auf Generationen zerstörte.

Obwohl mein Vater Paul und meine Tante Elisabeth Geschwister sind, könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Sie kommen aus einfachsten Verhältnissen, doch gingen grundlegend verschieden damit um. Mein Vater ist der Inbegriff eines kernigen Handwerkers vom Dorf, bodenständig und authentisch. Er nimmt das Leben so, wie es kommt. Wie selbstverständlich gehören zu diesem Leben das ein oder andere Bier, Schimpftiraden auf „die da oben“, Politiker und Studierte, die alle „schulgescheit, aber weltdumm“ seien. Und auch die ungenierte Pinkelpause am Feldrand, wenn es doch mal ein Bier mehr wurde. Dorfromantik eben.

Meiner Tante Elisabeth würden sich dabei die Haare sträuben. Sie setzte früh alles daran, der Unterschicht zu entkommen. Schon immer achtete sie penibel auf ihr Äußeres und ihre Manieren, schon immer versuchte sie etwas vorzugeben, das sie nicht war. Mit spätem Erfolg: Als unsere Familie längst entzweit war, lernte sie einen Druckmaschinen-Fabrikanten aus dem nächstgrößeren Ort kennen. Aus der Stadt! Sie heiratete ihn. Mit Druckmaschinen konnte Elisabeth zwar nichts anfangen, aber „Fabrikant“, oder noch besser „Unternehmer“, das klang nach etwas. Sie war fortan eine Unternehmergattin.

Schon als Jugendlicher hatte mein Vater viel handwerkliches Geschick bewiesen. Wenn im Haus meiner Großeltern etwas zu reparieren war, hatte man ihn gefragt, trotz seiner gerade einmal 13 Jahre. Für teure Handwerker hatte immer das Geld gefehlt. Nach der Mittleren Reife machte er sein Talent zum Beruf und begann eine Schreinerlehre. Das Haus meiner Großeltern hatte er inzwischen von Grund auf renoviert. Eines Tages sollte er das Haus erben. So war zumindest der Plan bis zu jenem Tag, als meine Oma unsere Familie zerstörte.

Mit jenem Tag begann mein Vater zu verbittern. Immer länger blieb er im Wirtshaus beim „Frühschoppen“, der sich längst bis in die Nachmittagsstunden zog. Seine Trinkkumpanen gingen mittags nach Hause – um Punkt zwölf stand das Essen auf dem Tisch. Mein Vater blieb am Tresen sitzen und leerte mit ausdruckslosem Gesicht ein Bier nach dem anderen. Zuhause wanderte er meist ohne Umwege an seinen Stammplatz am Küchentisch. Mit apathischem Blick starrte er aus dem Küchenfenster unserer kleinen Wohnung. In einer gerechten Welt wäre es das Küchenfenster seines Hauses gewesen – des Hauses, in das er so viel Zeit und Arbeit gesteckt hatte und das ihm versprochen worden war. Doch die Welt war nicht gerecht.

Unsere Familie war fortan in zwei Hälften geteilt – unsere Hälfte auf der einen Seite, die Hälfte meiner Tante Elisabeth, mitsamt meiner Oma, auf der anderen Seite. Man ging sich aus dem Weg – was in einem so kleinen Dorf nicht immer einfach ist.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Streit eskalieren musste: Nach der Sonntagsmesse flanierte Tante Elisabeth mit ihrem neuen Mann, dem weltmännischen Druckerei-Unternehmer, über den Kirchplatz. In seinem Maßanzug, mit seiner gescheitelten Frisur und seiner Designer-Brille kam er auf meinen Vater zu und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Na Paul, wie geht’s? Ich habe großen Respekt vor dir, musst du wissen. Wie du damit umgegangen bist, dass Elisabeth nun das Haus hat.“

Ich bin mir sicher, es war ein gutgemeinter Versuch, den jahrelangen Streit endlich beizulegen. Doch in seinem Maßanzug, mit seiner gescheitelten Frisur und seiner Designer-Brille stand er symbolisch für alles, was mein Vater in seinem Leben verachtete.

Mein Vater hatte die Flasche Wein, die eigentlich für das Sonntagsessen gedacht war, schon zum Frühstück halb geleert. Er rülpste seine Alkoholfahne in die frische Morgenluft, so laut, dass jeder sofort wusste, wer hier der Boss war. Dann verpasste er dem Druckmaschinen-Schnösel, wie er ihn immer nannte, ansatzlos einen Kinnhaken. Ich stand mit offenem Mund daneben.

Natürlich durfte ich meine Großmutter und meine Tante nicht besuchen, überhaupt niemanden aus dem anderen Teil der Familie. „Verlogenes Pack“, machte mein Vater sie pausenlos schlecht. Manchmal rannte ich trotzdem nach der Schule heimlich bei meiner Oma vorbei. Dienstags in der sechsten Stunde hatten wir Sport. Der Sportlehrer, ein prototypisches Exemplar mit Trillerpfeife vor dem Bierbauch, hatte ein ähnlich großes Alkoholproblem wie mein Vater. Entsprechend oft fiel der Sportunterricht aus. Ich nutzte diese 45 Minuten, um heimlich zu meiner Oma zu rennen, mir eine Umarmung abzuholen und manchmal auch ein Stück Schokolade.

So bekam ich mit, wie meine Oma langsam alt und krank wurde. So sitze ich nun, an jenem Tag, an ihrem Sterbebett. Heimlich.

Heute:

„Was hätte ich denn tun sollen?“, fragt mich meine Oma kaum hörbar. Ihre Stimme ist vom Alter gezeichnet, und von Verzweiflung.

Es sind die letzten Worte, die sie zu mir sagt.

Obwohl ich erst 14 bin, verstehe ich: Ich soll meine Oma von ihrer Schuld freisprechen. An Stelle meines Vaters. Ich greife ihre Hand: „Du hättest nichts anderes tun können.“

Dieser Satz wäre meinem Vater nie über die Lippen gekommen. Er ist das Wertvollste, das ich meiner Oma geben kann. Ein Freispruch in allen Anklagepunkten.

Nach 45 Minuten mache ich mich rasch auf den Nach-Hause-Weg, um zuhause keinen Verdacht zu erwecken.

Noch am selben Nachmittag klingelt es an der Tür. Mein Vater sitzt wieder einmal apathisch am Küchentisch. So bin ich diejenige, die öffnet. Vor der Tür steht meine Cousine Lisa. Ich ahne Schlimmes.

„Ich soll euch sagen, dass –“

Lisa stockt. Der Rest des Satzes geht in ihren Tränen unter. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, auch ich beginne zu weinen.

„Ich soll euch sagen, dass Oma –“

Mein Vater tritt hinter mich. Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich Lisa von meinen heimlichen Besuchen bei meiner Oma kenne. Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich um den schlechten Gesundheitszustand meiner Oma wusste.

„Ich soll euch sagen, dass Oma gestorben ist.“

„Willst du reinkommen?“, frage ich Lisa.

Doch hinter mir schüttelt mein Vater streng den Kopf. Er zieht mich herein und knallt die Tür vor Lisas Nase zu.

Selbst in diesem Moment kann er nicht über seinen Schatten springen, selbst in diesem Moment kann er keinen Frieden mit dem anderen Teil unserer Familie schließen.

Hinter der zugeknallten Haustür schaut mein Vater mich eindringlich an. Ich bin in Tränen aufgelöst. Er hat gerade vom Tod seiner Mutter erfahren. Kann ihm das so gleichgültig sein?

Mit der Hand schiebt er mein Kinn nach oben. In unbeholfenem Hochdeutsch beginnt er zu dozieren: „Du musst dir immer deinen Stolz bewahren. Wie übel sie dir auch mitspielen, wie dreckig es dir auch geht: Verlier niemals deinen Stolz!“

Zur Beerdigung meiner Oma darf ich nicht gehen.

16 Jahre später:

Ich sitze auf der Bank am Spielplatz und schaue meiner zweijährigen Tochter Emma zu, wie sie glücklich im Sandkasten buddelt. „Burg bauen“, ruft Emma.

Auf der anderen Seite des Spielplatzes, mit genügend Abstand, sitzt meine Cousine Lisa. Auch ihr Sohn spielt im Sand. Emmas Burgbaupläne haben das Interesse des kleinen Jungen geweckt. Mit tapsigen Schritten und neugierigem Blick kommt er auf Emma zu. „Burg!“, deutet Emma auf den vorgesehenen Bauplatz und reicht ihm ein Schäufelchen. Der Junge nickt.

„Nein, mit denen spielen wir nicht!“, will ich instinktiv sagen. Über Jahrzehnte habe ich diese ablehnende Haltung gegenüber dem anderen Teil unserer Familie verinnerlicht. Doch ich zögere. Warum eigentlich? Warum spielen wir mit denen nicht? Wegen eines uralten Konflikts um das Haus meiner Großmutter?

Auch meine Cousine Lisa hat wohl damit gerechnet, dass ich einschreite. Fragend blickt sie zu mir herüber. Ich lächle. Sie lächelt zurück. Emma reicht dem Jungen die Schaufel. Damit ist unser Familienkonflikt beigelegt.




Alexander Esser, Jahrgang 1989, schreibt schon immer gerne; meist humorvolle Texte, in diesem Fall aber auch einmal eine ernste Kurzgeschichte. Er hat Wirtschaftsmathematik in Köln studiert, dies bot bessere Berufsaussichten als eine Schriftsteller-Karriere. Doch in der Freizeit geht er weiterhin seiner Schreibleidenschaft nach.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

2 Kommentare zu „Das Versprechen

  1. Wunderschön geschrieben . Weiter so. Leider gibt es dieses Problem in vielen Familien da die Alterspflege meist nur von einer Person ausgeführt wird und die Heimpflege sich aufgrund der Kosten kaum jemand leisten kann. Inge

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