es bleibt wie es wird

Doerte Krebs für #kkl39 „Hinter der Zeit“




es bleibt wie es wird

            „Bitte, kommen Sie herein.“ Die Frau, die ihm die Tür aufhält, hat mit Can das Vorstellungsgespräch geführt. Er greift in die hingestreckte Hand.

            „Danke, dass das heute klappt,“, sagt er und betritt einen dunklen Laden. „mit dem Probearbeiten.“, fügt er lauter hinzu, unsicher, ob er gehört wurde. Schweiß staut unter der engen Jacke gegen den Futterstoff. Die Frau schließt die Tür, und das Rauschen des Verkehrs verstummt. Sie führt Can schweigend in den Raum hinein. Er eckt an, streckt die Hand aus, Stoffe verbergen kantige Pfosten und schmale Stangen.

            „Ich schalte das Licht an, bin gleich wieder da.“ Die Frau verschwindet zwischen den Einrichtungen. Can atmet aus. Sie heißt Frau Brauckmann. Er schaut sich um. Seine Augen gewöhnen sich an das wenige Licht, dass von draußen durch die Schaufenster hereinfällt, sein Herzschlag fällt aus dem Hals zurück in einen normalen Rhythmus. Er sieht Fenster, immer wieder Fenster, der Raum ist zugestellt mir Rahmungen bis zur Decke.

Das Licht leuchtet auf und trifft auf die Kulissen. Vorhänge und Stores fallen zu Boden, gefaltet, gerafft, werden umgelenkt aus der Schwerkraft in eigene neue Formen, luftig oder kräftig fließend, ganz abhängig von ihrer Beschaffenheit. Metall sendet Reflexe aus der textilen Fülle, lockige Kanten oder strenge Bordüren geben dem Stoff seinen Abschluss.

            „Die Mittagspause beschert uns mitunter Laufkunden, die meist nur aus Langeweile hereinschauen.“ Die Chefin ist zurück. Can lächelt. Mensch wähnt sich in tausend Räumen zugleich, erwartet einen prächtigen Ausblick in einen Park, wird aber in seiner Bewegung beschränkt, als sei er in eine Abstellkammer geraten.

            „Aber warum dann diese Dekorationen?“ Can geht weiter in die Ausstellungsfläche hinein.

            „Für die Kunden. Wen wir uns die Einbausituation, wie zum Beispiel ein Fenster angeschaut haben, bestellen wir die Leute zu uns ins Geschäft. Hier können wir sie anschaulich beraten, Stoffmuster zeigen und den Auftrag abschließen.“

            „Ah, verstehe.“ Can geht ein paar Schritte zurück, um durch zwei, drei, nein, vier Fenster zugleich auf ein großes Foto zu schauen, schwarzweiß, gerahmt und, je nachdem wie er vorrückt oder zurücktritt, kann er es mittig in den Fensterrahmungen platzieren. Ein schmales Gesicht, überzogen mit einer analog fotografierte Haut, blond, makellos.

            „Der alte Chef in jungen Jahren.“, erklärt Frau Brauckmann.

„Wir verstehen uns mehr als Werkstatt denn als Laden. Pausen und Arbeitszeiten zu respektieren, habe ich mit der Übernahme dieses Geschäftes gelernt.“

„Als eine positive Gepflogenheiten meines Vorgängers.“, fügt sie hinzu.

Der Gang ist zu Ende und sie wenden vorbei an einer komplett weißen Fensterdekoration in den nächsten Abschnitt. Can blickt zurück, Spitze liegt über Satin, eine Braut im Fenster. Die Frau, bereits ein Stück voraus, lacht plötzlich, „Von diesem neuen Gedanken ein Geschäft als Dienstleistung zu betreiben, sind wir weit entfernt.“

Can hat eine klare Vorstellung von seinem Beruf. Er möchte mit dem Textilen eine Haut über dem Original erschaffen, den Körper schmücken, das Leben zum Glänzen bringen, es flimmern lassen. Passendes zu schaffen, diese Fähigkeit möchte er auszubauen, denn das kann er. Er kann durch das Anschauen die Form der Schale finden, die Distanz oder Nähe, die es über dem Körper braucht, das Ausmaß, den Stoff, besser als alle anderen in seinem Jahrgang.

Hinter ihnen öffnet sich eine Tür, zwei Männer treten in den Raum, beide tragen einen Kitteln. Das graue Kostüm kennt Can, vom Schulhausmeister aus der Grundschule. Augenblicklich bleiben sie stehen, die Schritte synchron verkürzt, den Blick auf die Chefin, die müden Gesichter werden ernst.

            „Andre, Klaus, das ist Can Çelik, ausgebildeter Schneidergeselle. Er möchte unseren Betrieb kennenlernen und wird heute Nachmittag in der Werkstatt arbeiten.“

Can geht auf die Männer zu, Ablehnung kommt ihm entgegen. Der Größenunterschied ist erheblich, Can reicht Klaus gerade bis zur Brust. Er zwingt sich ihnen ohne Zögern die Hand zu geben. Andre und Klaus lassen sich überrumpeln, aber nun nicht mehr aufhalten.

Klaus schwenkt die Leiter durch den Raum, Andre, nur wenig älter als Can, nimmt die schweren Werkzeugtaschen, die er für den Handschlag abgestellt hatte, wieder auf und folgt ihm.

            „Die beiden sind bei uns für Aufmaß und Montage zuständig.“ Can ist zu Frau Brauckmann zurück gekehrt.

„Mir reicht es, ich hatte heute etliche Aufmaße mit Sonderwünschen und eben noch drei Montagetermine in einem Haus, alles Ölaugen!“ Deutlich hören sie den Beitrag von Klaus.

Can weicht zurück. Wie soll das gehen? Dieser, offen zur Schau gestellte Beleidigung kann er, will er nicht standhalten. Um hier arbeiten zu können, braucht ein Türke, falls er das noch ist, die Güte seines Vaters. Weder hat er die, noch verfügt er über die kühle Arroganz, die seine Mitschüler schon entwickelt hatten, bevor das Einmaleins auf dem Lehrplan stand. Denn nur so schien es möglich mit der konsequenten Nichtbeziehung zu den Deutschen klar zu kommen.

            „Schaut mal in unsere Auftragsbücher!“ ruft die Chefin den beiden Mitarbeitern hinterher. „Bei unseren Einsätzen steht ganz vorne der Osdorfer Born, gleich gefolgt von Lurup.“

Klaus hält eine Tür in der rückwärtigen Wand mit seinem Körper auf, Andre läuft an ihm vorbei und wuchtet die Taschen in das erste einer Reihe von Regalen.

            „Das ist unser Lager.“, erklärt Frau Brauckmann, an Can gewandt.

„Ja.“, hören sie Klaus wieder, „Das hat sich in den letzten zwei Jahren verändert, leider.“

„Nein, Klaus, das war schon unter Ihrem alten Chef so. Die Bedeutung dessen wolltet Ihr nicht erkennen. Wer macht es möglich, dass Ihr Euren Lohn bekommt?“ Klaus tritt zur Seite in das Lager und lässt die Tür ins Schloss fallen.

            „Da bekommen Sie gleich den richtigen Eindruck von unserem Alltag, Herr Çelik. Wasseraugen, Ölaugen, auch mich faszinieren immer zuerst die Augen meines Gegenübers.“

Nein, hier hilft kein Witz.

Sie klappert mit den getuschten Wimpern.

            „Die schönsten sollen die Moosaugen sein, darauf stehen sowohl die Braun- als auch die Blauäugigen.“ Sie grinst und deutet auf ihre grünen Augen.

Can muss nun doch lachen. „Ich bevorzuge Blauaugen.“

            „Aha, das männliche Ideal des schönen Draufgänger?“ Er nickt unmerklich, eigentlich bewegt er nur kurz die Augenlider.

            „Grün soll unabhängige Sinnlichkeit verkörpern. Ich folge da eher Nina Hagen.“

            „Ob schwarz, ob blond, ob braun?“

Frau Brauckmann nickt. „Ich liebe alle Frauen! Dass Sie die Musik kennen!“

            „Hört man nicht selten, in den angesagten Bars.“ Can hat Abstand zu den Kitteln gewonnen.

„Ein schwuler Schneider.“ Er zuckt zusammen.

            „Erkennen Sie auch, dass ich lesbisch bin?“

Jeder haut hier ohne Anlass seine Gesinnung raus, Sexualität, Rassismus. Hier fehlt Respekt, der Respekt vor dem Recht auf Nichtwissen.

            „Nein.“

Can bevorzugt Hetero-Frauen, ihre Männererfahrung schafft mehr Nähe. Frau Brauckmann sieht aus wie eine Werkkundelehrerin, niemals wie eine Lesbe, älter auch, als alle Lesben, die er je kennen gelernt hat.

            „Na, auf den Homo-Boom stoßen wir später an. Eingedenk des ehrwürdigen Geschäfts und mit Rücksicht auf den noch jungen Tag – vielleicht mit einem Tee?“

Can lächelt höflich, Frau Brauckmann applaudiert.

Can schaut sich weiter um und vorbei an der Tür hinter der die beiden Kollegen verschwunden sind.

            „Kommen Sie, ich zeigen Ihnen noch mein Büro.“ Ein leuchtender Glaswürfel kommt hinter den Staffagen zum Vorschein, sitzt direkt an der Rückwand, auf der das Licht im Würfel reflektiert und den Quader im Raum zu potenzieren scheint. Darin befindet sich ein langer Holztisch, ein moderner Hocker, chromblitzend und rosa gepolstert.

            „Sie werden staunen, das!“, sie umreißt mit beiden Armen die Glasecke hinter der Monstera deliciosa in der Luft, „gab es schon, als ich das Geschäft von dem alten Herrn Meyer übernommen habe, der in seinem Arbeitsleben irgendwann dieser Idee Gestalt gegeben hat.“

Nur die Tür, durch die sie gerade in die helle Zelle eintreten, hat einen Fassung in der ansonsten rahmenlose Konstruktion, die schweren, wandgroßen Glasscheiben sind direkt an einander gefügt.

            „Menschen können Dinge erschaffen, mit denen man sie früher niemals in Verbindung gebracht hätte und später niemals bringen würde.“

            „Haben Sie Erfahrung damit?“

„Vielleicht,“ Can wirkt nachdenklich, „wenn das auch für einen Gedankengang gilt.“

Frau Brauckmann tippt den Hocker an, der leichtläufig ausweicht. „Ja, davon gehe ich aus!“

Auf der linken Tischhälfte steht ein Würfel, durch die schmalen Holzleisten wirkt die Form wie skizziert, lediglich in den abgerundeten Ecken verbreitern sich die Profile und bilden einen wohl geformten Quirl aus vier Seitenkanten. Can verbirgt seine Bewunderung nicht.

            „Mein derzeitiges Projekt. Ich finde leider zu selten Zeit dafür, denn das Wirtschaften mit diesem Geschäft duldet keinen Aufschub.“

Im Innenraum des Würfels spannt sich schwarze Trikotage, die einen Raben im Sturzflug zeigt, aber wohl aus einem Slip in Form gezogen worden war. Hauchdünne Sehnen, die übergangslos von einer parallelen Ausrichtung in Strahlen übergehen oder auch nur vereinzelt eingesetzt wurden, sind über winzige Ösen an den Profilen befestigt und halten den Vogel im Flug.

            „Wow!“ Can klatscht in die Hände. „wie wollen Sie es präsentieren?“

„Ich habe schon experimentiert mit wiederum einer Verspannung im Raum, aber das ist schwierig, ohne dem Betrachter den Zugang zum Würfel zu versperren.“

Can blickt über ein paar Skizzen, die sich alle mit der Verspannung in dem Würfel beschäftigen, aus dem Bürokasten heraus, vorbei an weiteren Grünpflanzen, die sich um das helle Aquarium drängen, und endet in einer graugrünen Fensterwelt. Was den alte Chef wohl dazu bewogen hat? Can hält Ausschau nach der Lichtquelle.

            „Es ist das Tageslicht, das durch ein Oberlicht eingefangen und durch die Scheibe diffus verteilt wird. Der Laden ist ja nur eingeschossig.“

Can nickt anerkennend.

            „Ich habe nach meiner Ausbildung an der Kunsthochschule studiert, aber weder das Schneidern noch die Kunst reichten zum Leben. Daher habe ich die Chance ergriffen, die mir die Geschäftsübernahme von dem alten Herrn Meyer zu versprechen schien.“

Frau Brauckmann greift nach dem Würfel, rollt ihn über die Kante auf ein Ecke, der Rabe fliegt auf Can zu.

            „Ich schaffe mir mit der Kunst einen Ausgleich zu der Arbeit im Betrieb, der dank unserer neuen, internationalen Kundschaft fortbesteht, aber dadurch auch im alten Geist verhaftet bleibt. Den Weg aus dem Traditionellen wird dann vielleicht erst eine nächste Generation bewerkstelligen, so wie Sie.“

Die Chefin schaut ihn an. „Ich heiße Katrin, was halten Sie vom Du?“

            „Warten Sie, Frau Brauckmann, bitte.“, er kommt mit der Zurückweisung ins Straucheln. „Das geht mir zu schnell und ich sehe hier so viele Dinge gleichzeitig.“

„Okay, sorry, ich neige zu Enthusiasmus.“ Die Chefin hebt beschwichtigend die Hände. „Ihre Bewerbung hat mich von Anfang an überzeugt.“ Ihre Stimme war leise geworden. Sie kommt hinter dem Tisch hervor und beide verlassen den Kasten.

            „Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihren Arbeitsplatz.“ Danach schweigt sie eine Weile.

Sie öffnet die Tür zur Werkstatt, die neben dem Lager in einem rückwärtigen Flügel liegt. Hier ist es angenehm warm. Can schließt die Tür hinter ihnen.

„Bei der Konfektionierung hilft mir manchmal eine befreundete Schneiderin, aber in der Regel bringe ich die Wünsche der Kunden in Form.“ Frau Brauckmann hat sich wieder Can zugewendet.

Und der überlegt.

            „Das ist häufig mehr als geht. Daher suche ich mindestens eine Halbtagskraft.“

Can nickt.

Hat das Traditionelle, wie er es bei seinen Eltern kennengelernt hat, nicht seine Sehnsucht nach Poesie gefördert?

            „Frau Brauckmann, was Sie da machen, der Würfel, das ist grandiose.“

Er schaut die Chefin an, ihre Auge haben einen graubraunen Farbton angenommen.

            „Entschuldigen Sie, dass ich so distanziert war, aber das ist meine erste Bewerbung nach der Lehre, ich bin aufgeregt und ich bin ja auch nur wegen der freien Stelle hier.“

            „Ja, Herr Çelik. Kommen Sie.“ Frau Brauckmann tritt an den Tisch. „Ich habe Ihnen diese Aufgabe vorbereitet.“ Can ist ihr gefolgt und fragt sich noch kurz, wohin der Vogel im Würfel stürzt, dann wendet er sich der Anordnung auf der Tischplatte zu.

Die Chefin zeigt auf ein Gestell. „Die Bespannung soll erneuert werden, die Kundin hat uns einen Stoff dafür mitgegeben.“

Er zieht die Baumwollspitze zwischen den Fingern in beide Richtungen, schaut auf das Foto der Wiege, vermisst die Länge, Breite und Höhe des Wiegenaufsatz und rollt den Stoff auf dem großen Tisch aus.

Katrin Brauckmann verlässt die Werkstatt und schließt leise die Tür.

Can schafft in zwei Stunden ein schlichtes und formschönes Wiegendach. Die Chefin ist mit einer Teekanne und zwei Tassen auf einem Tablett in die Werkstatt gekommen. Sie lobt Cans Werk.

            „Wenn der Kundin der Auslauf hier am Übergang zur Wiege nicht gefällt, kann ich die Rundung noch wegnehmen.“

            „Okay, ich werde es ausrichten.“ Frau Brauckmann schenkt den Tee aus und reicht Can eine Tasse. „Der Stoff kommt gut zur Geltung.“ Sie ist an den Tisch getreten und streckt ihre Hand in den Wiegenaufsatz. „Die Spitze macht ein schönes Schattenspiel.“

            „Ja, ich habe nur gezielt Falten eingelegt, so liegt der Stoff oft einfach und das Licht findet den Wege zum Kind.“

Frau Brauckmann prostet Can mit der Teetasse zu.

            „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr mit meiner Begeisterung bedrängt.“

„Nein, Frau Brauckmann. Es ist gut, dass ich hier etwas länger war. Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.“ Can nimmt seine Tasche und sie verlassen zusammen die Werkstatt.

            „Und, haben Sie sich einen Eindruck machen können? Wie hat es Ihnen gefallen?“

            „Eigentlich recht gut.“ Er wirft einen Blick zurück zum Lager.

Katrin Brauckmann verlangsamt ihren Schritt.

            „Die brauchen die Verachtung, um ihre Situation hinnehmen zu können. Die ist anders, als sie gedacht hatten, nur Mittelmaß eben. Wie meistens im Leben.“, fügt sie hinzu.

            „Und natürlich mussten Sie lernen mit mir zu recht zu kommen, weil ich ihre Chefin geworden bin, zu ihrem Leidwesen. Sie sind lernfähig, aber nach wie vor anfällig.“

Katrin Brauckmann öffnet die Tür. Sie treten auf die laute Straße.

            „Sie sind geeignet für die Arbeit. Ich würde Sie gerne einstellen.“

Er lächelt ungenau. Darüber muss er nachdenken, wie das möglich wäre und ob Alternativen anders aussehen könnten. Was er an Frau Brauckmann hat, ist nicht zu übersehen.

„Schlafen Sie mal eine Nacht darüber und sagen mir Ende der Woche Bescheid.“

Can reicht ihr die Hand.

Ihr Dank folgt ihm, zwischen Ohr und Schaufenster. Wie er den Westwind hasst.





Doerte Krebs
„Ich bin Jahrgang 1961, lebe und arbeite technisch gestalterisch tätig in Hamburg, unter anderem schreibe ich – inzwischen auch in abgeschlossenen Texten.“





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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