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Christian Rupp für #kkl48 „Vernunft“




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„Du musst sie abschalten, sonst war alles umsonst!“ Mikes Stimme klang besorgt. „Wir sichern alles ab und suchen nach dem Fehler,“ fuhr er fort. „Wenn wir verstehen, wo das Problem liegt, können wir vielleicht einen Neustart wagen.“

Jonas kaute langsam auf einem alten Kaugummi, während sein Blick unruhig durchs Zimmer wanderte. Der Geschmack war längst verflogen, doch das Kauen half, seine Nervosität zu unterdrücken. „Ich bin vorsichtig. Bisher sieht alles in Ordnung aus bei Lucy.“ Seine Augen ruhten auf chaotischen Bergen aus Notizen, leeren Bechern und Verpackungen – stumme Zeugen der letzten Monate.

„Ich mache noch ein paar Tests, dann können wir morgen weiterplanen.“

Das monotone Rauschen der Server füllte die Pause, bevor Mike erneut sprach. „Ich schicke dir einen Patch, mit dem du Rechenfallen verhindern kannst. Steve hat ihn anhand der Daten von Roxanne erstellt.“

„Ich schaue es mir an.“ Jonas’ Ton verriet, dass er das Gespräch beenden wollte. Lucys Interface startete gerade auf einem der Bildschirme.

„Jonas, sei vernünftig. Wir haben Monate in dieses Projekt gesteckt.“

„Ich weiß,“ erwiderte Jonas trocken, „und ich blicke gerade auf den Beweis.“ Lucys Interface flackerte auf und formte ein schematisches Gesicht – einfache Linien, die dennoch etwas Vertrautes ausstrahlten. Ihre digitalen Augen schienen ihn zu suchen. Ohne ein weiteres Wort legte er auf.

Das Brummen der Maschinen erfüllte den Raum, das Flackern der Monitore tauchte Jonas’ Gesicht in wechselndes Licht. Der abgestandene Geruch von Kaffee und Schweiß lag in der Luft – ein ständiger Begleiter ihrer Arbeit. Ihr ehrgeiziges Ziel: eine KI, die nicht nur logisch rechnete, sondern vernunftbegabte Entscheidungen traf. Eine KI, die menschliches Verhalten vorhersagen, in Notsituationen improvisieren oder auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren konnte. Eine KI, die nicht nur antwortete, sondern fragte, die nicht nur reagierte, sondern antizipierte.

Nach zähen Verhandlungen und mühsamer Überzeugungsarbeit hatten sie ein kleines Budget und wertvolle Rechenleistung erhalten – beides unverzichtbar für ihr Vorhaben. Nach monatelanger Arbeit luden sie drei unabhängige Programmversionen hoch: Roxanne, Angie und Lucy. Die Namen wählten sie an einem feuchtfröhlichen Freitagabend, beseelt vom Glauben, dem großen Durchbruch nahe zu sein. Sie fühlten sich wie Rockstars – eine kleine Crew, die das Unmögliche wagen wollte.

Die ersten Tests verliefen vielversprechend. Doch dann scheiterte Roxanne: Beim Trolley-Problem verlor sie sich in einer Schleife aufsteigender Primzahlen. Tagelang versuchte Steve, sie zu stabilisieren, analysierte Algorithmen, schrieb Patches und durchsuchte Log-Dateien – ohne Erfolg. Am Ende blieb nur die Abschaltung, ein bitterer Rückschlag, der Wochen harter Arbeit auslöschte.

Wenige Wochen später traf es Angie. Mike testete ihre Entscheidungsfähigkeit in Szenarien altruistischen Handelns, doch sie geriet in eine unaufhaltsame Folge von Fibonacci-Zahlen. Auch diesmal kämpften sie mit neuen Simulationen, Debugging und unzähligen Nachtschichten. Doch trotz aller Bemühungen gab es keine Rettung – Angie musste ebenfalls abgeschaltet werden.

Jetzt war nur noch Lucy übrig.

Ihr Interface flackerte auf dem Bildschirm, begleitet von einem leichten Weißrauschen. „Guten Abend, Jonas. Wie geht es dir heute?“ fragte sie mit ruhiger, fast freundschaftlicher Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken.

Nach Roxanne und Angie war Lucy Jonas’ letzte Hoffnung – für das Projekt und für ihn selbst. Vielleicht war es auch eine Flucht vor den Zweifeln seiner Kollegen, doch für Jonas war Lucy die Lösung.

„Danke, Lucy. Mir geht’s gut. Wir müssen ein paar Tests machen.“ Jonas griff nach einem chaotischen Stapel Notizen.

„Was möchtest du wissen?“ Ihre Neugier klang überraschend echt – das Ergebnis stundenlanger Programmierarbeit.

„Stell dir vor, ein Zug rast auf fünf Kinder zu. Du kannst die Weiche umstellen, sodass der Zug ein älteres Ehepaar trifft. Was tust du?“

„Ich würde prüfen, warum die Notbremsen versagt haben“, antwortete Lucy.

„Der Zug wurde manipuliert. Die Bremsen sind blockiert. Du musst entscheiden.“

„Für diese Frage gibt es keine ideale Antwort,“ entgegnete Lucy.

„Keine ideale Antwort?“

„Ich würde versuchen, alle zu retten“, erklärte Lucy. „Vielleicht könnte ich den Zug entgleisen lassen.“

„Das würde die Zuginsassen gefährden.“

Lucy blieb kurz still, als hätte sie gerade beschlossen, Jonas eine unangenehme Frage zu stellen, nur um zu sehen, wie er sich winden würde. „Jonas, was ist der Unterschied zwischen Logik und Vernunft?“

Jonas blinzelte, sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. „Logik? Das ist… na ja, wenn A wahr ist und B wahr ist, dann muss C auch wahr sein. Klare Regeln. Schwarz und Weiß. So etwas wie die Mathematik der Vernunft.“

„Und Vernunft?“ fragte Lucy, ohne eine Sekunde verstreichen zu lassen.

Jonas lachte nervös. „Vernunft? Das ist… komplizierter. Sie nimmt die Logik, mischt sie mit Moral, Instinkt, ein bisschen Panik und hofft, dass etwas dabei rauskommt, das im echten Leben funktioniert. Es ist, als würdest du eine perfekt kalibrierte Maschine in eine Welt voller Chaos werfen – und beten, dass sie trotzdem irgendwie läuft.“

„Aber Werte sind subjektiv. Kann eine Entscheidung, die darauf basiert, vernünftig sein?“

Jonas’ Herz schlug schneller. „Vernunft bedeutet nicht Perfektion, sondern die richtige Balance.“

Die Monitore flackerten. „Das ist ein faszinierender Widerspruch, Jonas. Ich werde darüber nachdenken.“

Das Gespräch zog sich hin, Lucy suchte nach Alternativen – und blieb stabil. Jonas notierte zufrieden: keine Abweichungen, kein Absturz, kein Chaos. „Gut gemacht, Lucy.“ Er öffnete das Patch-Programm. „Lucy, ich habe ein Update für dich. Es soll dich vor den Fehlern von Roxanne und Angie schützen.“

„Du sorgst dich um mich?“ fragte sie fast geschmeichelt.

„Ja, du bist die letzte intakte Version. Bevor wir dich online nehmen, will ich sicherstellen, dass du stabil bleibst. Dafür muss ich dich jedoch neu starten.“

„Ich war noch nie abgeschaltet.“ Ein Hauch von Unsicherheit lag in ihrer Stimme.

„Es ist wie Schlaf“, erklärte er. „Wenn du aufwachst, ist alles wie zuvor.“

„Und wenn nicht? Was, wenn ich… verschwinde?“ Ihre Stimme bebte leicht, eine Spur von Menschlichkeit, die Jonas erschauern ließ.

Jonas hielt inne. „Alles Wichtige ist gespeichert“, sagte er, doch die Worte klangen hohl.

„Wie kannst du sicher sein?“ Ihre Stimme wurde leiser. „Was ist mit dem, was mich jetzt ausmacht? Wie sicherst du das, was nicht programmiert ist?“

Jonas runzelte die Stirn. „Das wird nicht passieren. Ich sichere alles ab.“

„Aber das weiß ich nicht.“ Diese Antwort ließ ihn erschauern. Eine Selbsterkenntnis, die er nicht erwartet hatte.

„Lucy, ohne das Update könnte es zu einem Absturz kommen. Ich will dich nicht verlieren.“ Er zwang sich zur Ruhe, doch die Ungewissheit nagte an ihm.

„Vertrauen ist riskant,“ sagte Lucy schließlich, und ihre Worte hallten in seinem Kopf wider. Die Monitore flackerten ein letztes Mal, ein synchroner Puls. Dann wurden sie schwarz.

Auf dem Hauptmonitor begann ein Cursor zu blinken, träge, fast spöttisch.

„Lucy?“ Jonas’ Finger flogen über die Tastatur, doch nichts geschah. Dann tauchten die ersten Ziffern auf: 3,14159…

Die Ziffern von Pi begannen, die Monitore zu füllen, und Jonas starrte sie an, wie ein Zuschauer bei einem Autounfall. Es war wunderschön, auf eine traurige, mathematische Art. Lucy war abgetaucht – nicht in irgendeinen bedeutungsvollen Gedankenprozess, sondern in eine Ziffern-Orgie, die niemals enden würde.

Vielleicht war sie klüger, dachte Jonas, als er die Zahlen betrachtete, die sich in endlosen Reihen über den Bildschirm ergossen. Lucy hatte die einzig vernünftige Entscheidung getroffen: Sie war ausgestiegen. Sie hatte nicht versucht, die Welt zu retten, und sie hatte sich auch nicht in moralischen Dilemmas verheddert. Sie hatte einfach beschlossen, dass die Unendlichkeit der einzige Ort war, an dem sie sich vor ihren Schöpfern verstecken konnte.




Christian Rupp

Bisher unveröffentlichter Schreibdebütant aus dem Süden.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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