Puzzleteil

Anne-Kathrin Meyer für #kkl49 „Ablenkung“




Puzzleteil

Es ist meine siebte Woche auf der Geschlossenen. Die Spitze meines Mittelfingers ertastet die Struktur eines Puzzelteils. Ich fühle die rauen, winzigen Schnipsel, die blau eingefärbt, zusammengepresst und miteinander verklebt, getrocknet, auf einer Seite mit einem großen Bild im Format fünfzig mal siebzig foliert und in eintausend Stücke gestanzt wurden. Der Folienabschnitt auf diesem Teil ist überwiegend gelb. Ich erkenne Pinselstriche mit braunen Pigmenten, feinere Linien, die ins Grünliche gehen, und vereinzelte Fleckchen, winzig, fast weiß.

Ich drehe das Stück mit der Spitze meines Zeigefingers. Als Kind nannte ich diese Teile Einer: Sie haben eine konvexe Ausstülpung, drei konkave Einbuchtungen. Ich spüre die spitzen Ecken. Auf der bedruckten Seite fallen die Kanten weich zur Schnittstelle ab. Die Kanten der Rückseite sind scharf: Sie stehen hoch, wie Wellen, die gegen eine Felswand schlagen.

Ich suche das gestückelte Bild auf der Tischplatte ab. Links im Vordergrund eine schwarze Zypresse, die sich in geschwungenen Pinselstrichen bis zum oberen Bildrand reckt. Rechts von ihr ein Dorf mit einer weißen und hellblauen Kirche, deren nadelspitzer Turm hoch bis in die Milchstraße sticht, dahinter Hügel und Berge mit Feldern und Wäldern.

All die dunklen Flächen habe ich in den letzten zwei Stunden gelegt. Für den Rest, den blauen Nachthimmel mit seinen gelben Wirbeln, den Sternen, groß wie Sonnen, seine hypnotische Tiefe, werde ich dreimal so lange brauchen.

Ich schrecke hoch, als sich eine Hand auf meine Schulter legt. Seit Stunden beschleunigt sich erstmals mein Puls aus seinem Stand-by-Rhythmus und für ein paar Sekunden wird mir schwindelig. Ich sehe in das schmale Gesicht von Pfleger Olaf. Er lächelt. Mein Herzschlag dröhnt in meinem Kopf.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagt er.

Ich hole tief Luft. „Geht schon wieder“, sage ich.

„Ich wollte nur fragen, ob Sie einen Smoothie wollen. Die Bananen müssen weg.“

Ich nicke. „Smothie. Klingt gut.“ Ich keuche ein wenig.

„Sie waren wohl weit weg“, sagt Pfleger Olaf. „Ich war vorhin schon mal hier. Das haben Sie gar nicht gemerkt, oder?“

Ich ziehe skeptisch die Brauen zusammen. „Wirklich?“

Er nickt.

„Das kenne ich gar nicht von mir“, sage ich.

„Toll, oder?“, sagt Pfleger Olaf. „Wann konnten Sie sich zuletzt so auf etwas konzentrieren, dass Sie nicht mehr mitbekommen, was um Sie herum passiert?“

„Keine Ahnung“, sage ich. „Muss Jahre her sein.“ Die Erkenntnis presst meinen Brustkorb zusammen. In meinem Hals steigt ein brennender Klos und in meinen Augen Tränen auf. Depressionen sind nicht von heute auf morgen einfach da. Sie schleichen sich ins Bewusstsein. Anfangs sind die Schatten blass. Sie können ewig unentdeckt bleiben, bis sie dichter und kälter werden. Bei mir dauerte es drei Jahre, um sie überhaupt zu erkennen. In der Psychiatrie verstand ich, was mit ihnen verbunden war. Ich dachte, ich würde ADHS haben, weshalb meine Filter kaputt wären. Vielleicht habe ich auch ein paar Ausläufer davon. Aber dass ich nie ausblenden konnte, was um mich herum passierte, lag an den Gnomen, die mir jeden Tag, jede Minute zuflüsterten, ich sei nicht gut genug. Mein Verstand hatte auf Turbo geschaltet: Ich musste immer alles mitbekommen, war ständig auf Empfang. Ich musste funktionieren. Ich musste die Welt retten, in jedem Augenblick.

 Und meine Kreativität erstickte an der Informationsflut. Ich gestattete mir keine Atempause, denn ich war nur etwas wert, wenn ich mich für andere opferte.

Zwei Stunden für ein Puzzle. Bisher. Es werden bestimmt noch sechs folgen. Ich werde einen ganzen Arbeitstag investiert haben. Und am Ende werde ich es höchstens ein paar Minuten betrachten und wieder in die Packung schieben. Ich werde die Kiste ordentlich durchschütteln, damit sich ja keine zwei Teile werden aneinander festhalten können.

Das Gefühl von Dankbarkeit und Freiheit lässt mich weinen.

„Ich liebe Van Gogh“, sage ich.

„Ich auch“, sagt Pfleger Olaf.




Anne-Kathrin Meyer wurde 1992 in Sachsen-Anhalt geboren. Der Bauernkalender bestimmte ihren Alltag, bis sie 2014 ihre Leidenschaft für Literatur wiederentdeckte. Sie wurde Redakteurin und schrieb und veröffentlichte ihre eigenen Geschichten. Thriller und Kindergeschichten sind ihre Genres. Nach fünf Jahren Thriller-Praxis in der forensischen Psychiatrie verselbstständigte sie sich 2025 mit der LexterEY in Schwerin als Lektorin und Autorin.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Ein Kommentar zu “Puzzleteil

  1. Habe nicht viele Worte….einfach nur toll! Würde gern mehr davon lesen.

    Viel Erfolg für dich! Eine „alte“ Bekannte aus Burg 🙂

    Like

Hinterlasse eine Antwort zu Lisa Antwort abbrechen