Freie Sicht

Juliane Delkeskamp für #kkl56 „Und dann kam…“




Freie Sicht

Morgens im Sessel. Im trägen Halbschlaf schauen.

Sitzen und aus dem großen Fenster schauen, über die Terrasse und den Rasen hinweg auf die Gasse. Durch die immergrünen Büsche lässt sich nur ein schmaler Ausschnitt von ihr erfassen.

Verschwommen erinnere ich mich, wie ich damals, an den ersten Abenden nach dem Einzug, im ganzen Haus Licht anschaltete, hinauslief und durch die Büsche lugte um auszumachen, was bei welcher Beleuchtung wohl sichtbar werde von meinem Leben hier im Haus. Die Büsche sind heute dichter und höher, die Freiheit, nicht gesehen zu werden, größer.

War da ein huschender Schatten hinten bei den Hecken? Pawel springt von meinem Schoß. Beide Bewegungen schubsen mich in den heute so dämmrigen Wachzustand der Schmerzfreiheit.

Die Katzenklappe klickt. Pawel ist hinausgeschlüpft. Hinten an den Büschen kann ich eine schmale Gestalt erkennen. Sie geht aufrecht mit großen Schritten quer über die Wiese Richtung Terrasse. Ich lösche das Licht, so dass sie mich im Sessel nicht ausmachen kann.

Die Uhr schlägt 10. Die Herannahende ist ein junges Mädchen. Schmal, blass. Ungefährlich.

Sie hat die Terrasse erreicht und setzt sich mit dem Rücken zu mir auf die untere Treppenstufe, schaut nun, genau wie ich, über die Wiese und die Hecke Richtung Gässlein.

Ich spüre keine Angst. Sie wirkt auf mich nicht wie ein Eindringling, so schutzlos, wie sie da hockt, in dieser dicken braunen Lederjacke mit Pelzbesatz, zu groß für ihre schmalen Schultern und viel zu kurz für dieses feuchte Wetter und ein Sitzen auf kalten, mit grünem Belag bedeckten Steinen.

Pawel quert die Terrasse und geht mit hoch erhobenem Schwanz auf das Mädchen zu, überspringt die oberen Stufen und setzt sich neben sie. Sogleich wird er mit leichter Hand gestreichelt. Es wirkt vertraut, wie ein Wiedersehen.

Jetzt nestelt sie an ihrer Jackentasche, zieht etwas heraus, dreht sich leicht von Pawel weg und beginnt mit gesenktem Kopf etwas zu tun. Ich kann nicht ausmachen was, bis sie ein Streichholz entzündet. Über ihr kräuselt sich eine schmale Rauchwolke, sie lehnt ihren Kopf nach hinten und schickt noch weitere zierliche Rauchsäulchen in den Gartenhimmel. Pawel springt auf ihre Schulter und schmiegt sich an den dunklen Pelzkragen. Sie lehnt ihren Kopf an die Flanke des Tieres und wieder verharren die beiden fast bewegungslos, unterbrochen nur vom regelmäßigen Rauchen des Mädchens.

Eigentlich sitze ich um diese Zeit nicht hier am Terrassenfenster. Die Vormittage verbringe ich am Schreibtisch, seit der Tropf sicher den Schmerz von mir fern hält und mich arbeiten lässt. Doch heute wollte die Schwäche nicht weichen. Heute konnte Mariella mich kaum auf die Beine und in den Tag hinein hieven, und so entschied ich, dass ich ausnahmsweise im Sessel vor dem großen Fenster bleibe. Hoffend, dass ich morgen wieder schreiben könne, um all die fliehenden Gedanken und sich aufdrängenden Erinnerungsfetzen nicht nur zu bündeln, sondern vor allem, um ihren Sinn zu verstehen, so dass sich das immer wirrer werdende Grauen verliert und endlich Ruhe kommen möge.

Sonnenstrahlen erreichen die Terrasse und das Mädchen wendet ihr Gesicht mit geschlossenen Augen dem Licht entgegen. Nun sehe ich, dass sie keine Zigarette raucht, sondern eine kleine Pfeife mit geradem kupferfarbenem Stiel und einem winzigen Pfeifenkopf.

Ich fühle mich merkwürdig fehl an meinem Fensterplatz, als habe sie mehr Recht auf meiner Terrasse zu sitzen, als dass es mein Recht wäre, sie zu beobachten.

Sie streckt den Rücken durch, klopft die Pfeife am Stufenrand aus und schiebt sie in ihre Jackentasche. Pawel springt von ihrer Schulter. Auch er streckt sich, gähnt und seine Krallen ziehen schmale Spuren in den Moosbelag. Das Mädchen dreht sich um und schaut mir in die Augen.

Ich zucke zurück, um dem Blick, um dem Gesehen-Werden zu entgehen. Um diesen Augen zu entgehen, deren Blau in meinen Dämmerzustand hinein blendet wie ein viel zu heller Sommerhimmel. Und überrascht erkenne ich, dass es meine jungen Augen sind, die mich anschauen.

Es war in den Sommerferien. Leeds und ich verbrachten die heißen Tage auf den Stufen des Fredericianums. Kassel brodelte. Documenta 6. Es war ein Riesenspaß. Wir sprachen Besucher an, die die Ausstellung verließen, ob sie uns ihre Karten überlassen würden und verkauften sie dann an Besucher, die mit erwartungsvollen Blicken Richtung Kasse strebten.

Es waren die Zeiten von Dope und Gras. Weil wir nichts mehr hatten, verschwand Leeds, um etwas zu organisieren. Leeds, der stundenlang vom Leeds-Konzert der „The Who“ schwärmen konnte, als wäre er dabei gewesen, der, wenn er richtig breit war, „My Generation“ mit der Luftgitarre, inklusive der mächtigen Windmühlenbewegungen von Pete Townsend spielte, Leeds ging wirklich allen auf die Nerven. Wir verstanden uns trotzdem.

Ich hatte noch Eintrittskarten und als Leeds unterwegs war, ging ich rein. In der Eingangshalle dröhnte und schnaufte die Honigpumpe in ihrem trogartigen Gefängnis. Große Motoren bewegten die riesige Kupferwelle in dem Margarine-Fettbett und pumpten Honig in gräulichen Schläuchen treppauf, treppab und von Raum zu Raum. Je länger die Ausstellung lief, desto übler der Geruch der ranzigen Margarine. Leeds und ich hatten hier einmal einen Lachanfall bekommen, konnten uns nicht mehr einkriegen, weil uns das Ding so an die Sinnlosigkeit des Lebens erinnerte: Ein in sich geschlossenes System arbeitet, nur um ohne Unterlass arbeiten zu können; und dann stinkt und wummert es auch noch. Wir wurden schließlich rausgeschmissen, durften am nächsten Tag aber wieder rein.

Ich trete neben das junge Mädchen, wir lehnen an der Brüstung, unter der die dicken Motoren lärmen. Sie sieht auf und wieder begegne ich meinen jungen Augen. So verträumt sie schaut, so tief ist mein Grauen, weil ich weiß, was auf sie zukommt. Das Stampfen der Pumpen quillt in meinen Ohren und umklammert mich. Ich kann sie nicht aufhalten, kann sie nicht warnen.

Ich weiß, sie wird wenig später, in den nahe gelegenen Auen von zwei Männern in die Enge gedrängt werden, wird hinter den Büschen an eine Mauer gedrückt und an ihren langen Haaren hin- und hergezogen werden. Ich weiß, sie wird niedergerungen werden, ihr weißes Hemd wird zerrissen und sie wird fast vergewaltigt werden. Nur Leeds wird das gerade noch verhindern.

Das pochende Gefühl, ausgeliefert zu sein und die Klarheit, dass alles, was passiert, einer maschinengleichen Logik folgt, lähmen mich. Die Männer waren zu stark, kein Wehren half, kein Schreien und Treten. Ich weiß, dass es hiernach keine Hippietage mehr gibt und verstehe blank und kalt, dass von da an unsichtbar zu sein, Freiheit bedeutet.

Mühsam streife ich die Traumsplitter ab. Noch rieche ich den Schweißgeruch der Männer, noch spüre ich den dumpfen Rhythmus der Honigpumpe. Doch das Grauen ist fort; das Gefühl der Unausweichlichkeit ist von mir abgefallen. Ich öffne die Augen. Sie steht in ihrer dicken braunen Jacke neben meinem Sessel und schaut mich an, lächelt, hebt den Arm und streicht über meine Wange. „Alles gut“, sagt sie leise. „Alles gut jetzt“. Sie zeigt auf die Wiese, nein, mein Arm zeigt auf die Wiese. Terrassentür und Fenster stehen offen, Wind bauscht die Vorhänge, Frische erfüllt den Raum. Die Uhr schlägt, aber ich zähle nicht mit.

Eine warme Ruhe breitet sich in mir aus. Ich schaue hinaus, sehe auf der Gasse einen Passanten und winke ihm zu. Er kann mich nicht sehen. Ich werde Mariella bitten, die Büsche auszuschneiden. Sie brauchen mehr Platz. Pawel kringelt sich auf meinem Schoß zusammen. Heute Nachmittag werde ich wieder an den Schreibtisch gehen können. Es braucht jetzt nicht mehr viel, denke ich.




Juliane Delkeskamp, M.A., Jg. 1959, nach Studium fast immer freiberuflich gearbeitet.
Ich schreibe und feile, vertiefe und verliere mich in Kurzgeschichten und Erzählungen.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Ein Kommentar zu “Freie Sicht

Hinterlasse einen Kommentar