Der Kokon

Katharina Kappert für #kkl39 „Hinter der Zeit“





Der Kokon

Amalia stand am Fenster und bewunderte das Lichtspiel im Raum. Ihre Finger glitten sacht über den dünnen, fast durchsichtigen Vorhang. Eine zarte Wand, die sie von der Welt da draußen trennte. Nur zu gut kannten ihre Fingerspitzen den Organza schon. Sie hat die Vorhänge noch nie getauscht, seit sie in dieser Wohnung lebte. Und erst recht nicht, seit sie diese Räume nicht mehr oder nur noch sehr selten verließ. Die Zeit verging und kam nicht zurück. Sie hatte mit angesehen, wie der Bauch der Nachbarin angewachsen war und eines Tages ein Baby in ihren Armen lag. Dieses kleine Mädchen ging inzwischen in den Kindergarten und wuchs in ein Leben hinein. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Doch kann sie das wirklich? Kann die Zeit das Gefühl der Beklemmung, des Ungenügens und der Verzweiflung heilen? Eine Therapeutin hatte ihr eine Zeitlang versucht zu helfen, ihren Weg in ein neues Leben zu finden. In eines, das nicht von Angst und Schmerz bestimmt war, in dem sie sich leichter tun könnte mit anderen Menschen zu interagieren. Doch aus unbestimmten Gründen hat es nicht funktioniert. Nicht unbestimmte Gründe. Amalia hatte ihr nicht vertraut. Sie hatte sich der Therapeutin nicht vollends geöffnet und somit konnte sie hinter der Zeit, die sie mit Therapie verbracht hatte, keine Heilung finden. Sie zog sich zurück in ihren Kokon, aus dem sie hoffte, irgendwann schlüpfen zu können. Nach einer Weile war dieser Vorhang zum Kokon geworden. Dahinter lief die Zeit weiter, die Jahreszeiten kamen und gingen, Kinder wuchsen, Liebe verging. Hatte sie je so etwas empfunden wie Liebe? Liebe und Zeit. Zwei Begriffe der Menschheit mit denen vielfältig, oft seltsam umgegangen wird. Hinter der Liebe versteckt sich der Sinn für die Welt, für die belebte, empfindungsfähige Welt. Hinter der Zeit verbirgt sich der Antrieb etwas erfinden, erreichen zu wollen, unserer Existenz eine Bedeutung zu verleihen. Zeit läuft uns davon. Unwiederbringlich. Liebe manchmal auch, aber sie kann wieder gefunden werden. Sagt man zumindest. Die Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden vergingen und Amalia lief ihr Leben davon. Die Welt hatte sie überwältigt. Sie hatte sich von ihr erholen müssen. Der Kokon sollte sie schützen und irgendwann wieder hinaustreiben, nicht in eine neue Welt, das war unmöglich, aber in ein neues Leben. Ein neues Ich. Das war sehr wohl möglich. Der Vorhang glitt zwischen ihren Händen ganz sacht hindurch, wie fließendes Wasser. Das kleine Mädchen lachte und spielte mit ihrem kleinen roten Auto. Dieses Leben war gezeugt worden und gewachsen, während sie sich hier hinter dieser Wand aus Weiß versteckte. Sie hat es sich bequem gemacht in ihrem Kokon und ihrer Angst. Es war einfach die Zeit verstreichen zu sehen und die Zweifel zu pflegen. Doch die Zeit ist unbarmherzig. Sie ist für alle gleich. Was wir mit ihr anfangen, was wir ihr entlocken, da liegt der Unterschied. Hinter der Zeit verbergen sich viele Überraschungen. Manchmal Enttäuschungen, frohe Botschaften oder einfach nur unbewertete Veränderung. Wissen tut man es ja ohnehin immer erst nachher. Amalia wurde das Herz schwer. Es hatte doch damals ganz langsam angefangen, wie konnte es so schlimm werden? Es hat damit begonnen, dass sie einen Tag die Woche nicht mehr vor die Tür ging, weil ihr der Umgang mit Menschen ganz allgemein zu anstrengend wurde. Sie zog sich von ihrem Freundeskreis immer mehr zurück, ließ ihre Therapeutin immer öfter auflaufen und distanzierte sich von ihren Kollegen und Kolleginnen. Inzwischen war so ziemlich der einzige Kontakt nach draußen noch ihre Schwester. Und auch für sie wurde es schwer, die Bürde zu tragen, Amalias Brücke zur Welt zu sein. Amalia wollte nie eine Bürde sein. Sie wollte Teil einer Lösung sein. Leider hat sie für sich keine Lösung gefunden. Der Schmerz des Lebens war größer als der, dem Leben nur zuzusehen. Hinter dem Vorhang befand sich die Welt. Hinter der Zeit verbarg sich die Erlösung, die Heilung, vielleicht sogar der Sinn des Lebens. Unsere Lebenszeit ist unser wertvollstes Gut. Wir wissen nicht, wie viel wir davon haben und sie ist unwiederbringlich. Was war ist vergangen, was sein wird, ist ungewiss. Irgendwo dazwischen liegt das Geheimnis des Lebens verborgen. Leben ist ein Herzschlag, ein Energiestoß, der etwas zum Wachsen und Gedeihen bringt. Energie muss umgesetzt werden, sonst ist sie verschwendet, so wie Zeit genutzt werden sollte, sonst ist sie einfach nur verloren. Das alles ließ sich so einfach dahin sagen, denken, aber den Schritt vor die Tür zu setzen, das war schwer. Amalia stockte der Atem schon bei dem Gedanken, vor die Haustür zu treten. Das kleine Mädchen lief auf einen kleinen Jungen zu und umarmte ihn. Die beiden lachten und warfen einander einen Ball zu. Die zwei lachten, kicherten so laut und herzlich, dass Amalia es durch ihr Fenster hören konnte. Wann hat sie zuletzt herzlich gelacht? Oder mit jemandem? Wie lange war es her, dass sie jemanden umarmt oder geküsst hat? Amalias Griff am Vorhang wurde kurz etwas fester, dann ließ sie ihn los. Sie hockte sich auf den Boden neben dem Fenster. Der Schmerz überwältigte sie und die Selbstvorwürfe stachen zu wie ein Messer in die Lunge. Hinter all den Jahren, die sie hier verbracht hatte, steckte Angst. Angst nicht gut genug zu sein, Angst vor Ablehnung, Angst vor der Überforderung, die andere Menschen in ihr auslösten. Doch jetzt, zum ersten Mal seit langem, gesellte sich eine andere Angst dazu. Die Angst etwas zu verpassen. Das erste Mal seit langem kamen ihr ihre vier Wände zu klein vor. Hinter der Zeit verbirgt sich das Geheimnis des Lebens und sie hatte sich jahrelang davor versteckt. War es an der Zeit, die Nase hinaus in die Welt zu stecken? War es Zeit, dass sie sich ihren Ängsten stellte? Kleine Schritte. Machbare Schritte. Hinter dem Schmerz, den sie empfand, lagen Reue und verpasste Chancen. Doch das war vergangen. Hinter dem Vorhang lag die Welt, außerhalb des Kokons ein neues Leben und vor ihr Zeit, die sie nutzen konnte. Hinter der Tür wartete Mut, hinter dem ersten Schritt Zweifel, hinter dem zweiten Bestätigung und hinter dem dritten Leichtigkeit. Hinter der Haustür war ein Lachen zu hören, das des kleinen Mädchens. Hinter dem Lachen lag Freude. Hinter der Freude lagen Energie und Leben. Amalia trat vor die Tür. Die Sonne schien und eine leichte Brise ging. Es war laut, das verstörte sie kurz, aber sie spürte die frische Luft in ihren Lungen und wie sie den Schmerz von vorhin vertrieb. Das kleine Mädchen und ihr Spielgefährte lachten sie im Vorbeigehen an. Amalia war sich nicht sicher, ob sie gemeint war mit dem Lächeln. Aber sie lächelte zurück. Einfach so. Sie spürte wie sich Freude über dieses Lächeln in ihr breit machte. Und so setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ein paar Schritte. Ein mal um den Häuserblock. Das musste fürs erste reichen. Sie ertappte sich wie sie an der Bäckerei vorbei kam und der Geruch frischer Croissants mit Schokolade ihr in die Nase stieg. Doch sie hatte kein Geld eingesteckt. Das nächste Mal, dachte sie. Morgen. Von hier aus sah die Welt ganz anders aus als von ihrem Fenster. Hinter der Zeit gehen Veränderung, Wachstum und Vergehen. Hinter der Zeit verbergen sich Geheimnisse, die nicht alle zu lösen sind. Hinter der Zeit kann man Heilung und Mut finden, wenn man sie sucht.





Katharina Kappert
Ausbildung an der Modeschule Michelbeuern, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. 2009-2014 Kostümassistentin u.a. am Volkstheater und  an der Volksoper Wien, Seit 2015 freischaffend als Kostümbildnerin am Theater tätig.Schon als Kind habe ich mir gern Geschichten ausgedacht. In meiner Teenager-Zeit habe ich mehrere Bücher geschrieben. Nun möchte ich dieser Tätigkeit wieder intensiver nachgehen. Letztes Jahr habe ich begonnen an einem Theaterstück und einem Roman zu arbeiten. Seit Herbst 2023 Teilnahme an mehreren Schreibwettbewerben. Seit März ist mein Buch „Was uns verbindet und letztendlich trennt“ bei Stroy One erhältlich.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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