Stigma

Christina Maria Hesse für #kkl21 „Stigma“




Stigma

Mein „Brandmahl“  ist  schon seit Kindertagen mein Aussehen.

Ich sehe aus wie…..

Ich habe die Figur wie…..

Ich hatte schwarze Haare wie….

Ich habe die Haltung wie…..

Geboren in ein Elternhaus mit Vater, Mutter, zwei Schwestern meiner Mutter und deren Mutter, war mein Aussehen mein Stigma und mein Brandmahl.

Wie gut dass nur die äußerlichen Merkmale von mir, den Merkmalen der Frauen unserer Familie so sehr glich.

Meinen Charakter, meine Seele, mein Wesen  aber, das Erbe meines Vaters war, und auch noch heute so ist.

Ich habe mein Leben gebraucht um die Zustände und Umstände meiner Herkunft zu verarbeiten und zu verstehen.

Mein Vater, ein liebevoller Vater, ein guter Geschäftsmann, menschenfreundlicher  Arbeitgeber, wundervoller Mensch, Tierschützer und Naturliebhaber bewahrte seine Seelenqual für Jahrzehnte im Herzen und schwieg.

Meine Mutter forderte, degradierte ihre Schwestern zu Hausangestellten, vernachlässigte Oma, ließ Vater allein und schenkte mir weder Beachtung noch Liebe.

Ich wuchs auf bei den Tanten, liebevoll und beschützt.

Margret und Fine waren meine Mütter.

Vater versank in Arbeit und brachte die Familie zu Wohlstand. Große Achtung in einer Kleinstadt an der Ems war uns gewiss.

Auch über die Grenzen Telgtes hinaus kannte jeder den Metzgermeister und seine Tochter.

Für mich war die Kindheit zunächst in Ordnung, wenn auch alle Augen auf mich gerichtet waren, eine Dummheit  konnte ich mir nicht leisten.

Draußen spielen und eine Dame aus der Nachbarschaft nicht grüßen war schon ein kleines Verbrechen, wurde gleich in einem von Vaters drei Läden gepetzt.

Die Jahre gingen dahin, Vater veränderte sich, brach aus. Die heile Welt geriet in absolute Schieflage.

Als ein Feuer Vaters Lebenswerk vernichtete ging er ohne Abschied nach Brasilien.

Hass, nun erfuhr ich was abgrundtiefer Hass ist.

Mutter verlor Annehmlichkeiten und ihren guten Ruf.

Ganz Telgte spekulierte. „Wo ist der Metzgermeister?“

Mein Vater nahm Kontakt zu mir auf. Ich war froh ihn gesund und zufrieden zu wissen.

Nach und nach verstand ich welch eingesperrtes Leben er geführt hatte.

Dieses Leben drohte nun auch mir. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und lebte mit drei kleinen Kindern in unmittelbarer Nähe von Vaters abgebrannter Firma.

Leute stigmatisierten mich nun nach meinem Aussehen.

Wo ich hinging, in welches Geschäft, zu welchem  Kindergeburtstag, wohin auch immer, ich war die Tochter vom Metzgermeister.

Meine Mutter, Tante Fine, Tante Margret oder ich, das war das eine Gesicht!

Nun war ich auch noch auf Vaters Seite, zu viel für ehrbare Bürger.

Der Schweinehund, der Brandstifter, der Versicherungsbetrüger, der die Familie im Stich lässt!

Ein Spießrutenlaufen für mich.

Das Stigma so auszusehen, das Brandmahl der Schande. Ich stand für diese Katastrophe.

Die Ruine der Metzgerei wurde abgerissen. Tante Margret starb. Tante Fine verließ mein Elternhaus, lebte nun im Altersheim.

Ich zog nach Warendorf.

Mutter lebte Hass und Missgunst aus, verachtete mich wegen meiner Nähe und Loyalität zum Vater.

Es ging wie immer um Geld, welches nun nicht mehr im Überfluss vorhanden war.

Vater brach sein Schweigen.

Ein Skandal, eine Schande, ewig totgeschwiegen, kam ans Tageslicht. Auch Tante Margret bekam 1964 einen Sohn, gezeugt von meinem Vater.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit, der Kundschaft, der Menschen in Telgte war Margret über Monate zur „KUR!“

Dieses Kind wurde zur Adoption frei gegeben, verschwiegen und vergessen. Das Werk meiner Mutter!

Das eheliche Kind, fast gleichzeitig geboren, wurde von Margret liebevoll umsorgt.

Welche unvorstellbare Qual muss Margret ausgehalten haben.

Vater behielt diese unfassbare „Geschichte“ nicht mehr für sich.

Wohl seine einzige Möglichkeit der ihm zugesprochenen Schuld des Versagens, des Abhauens, des Aufgebens, zu entgehen.

Nach Jahren in Brasilien und vielen Besuchen meines Vaters bei mir und meinen Kindern, starb er. Seine letzte Ruhestätte ist in Brasilien.

Mein Stigma, mein Brandmal wurde bei jedem Besuch in Telgte, im Altersheim bei Fine wieder sichtbar.

„Da, die Tochter von….! Da, der Alte hat….! Da, die hat alles geerbt……! Da, die war bestimmt in Brasilien! Da, die hat das Geld vom Alten….!

Die Finger zeigten noch nach zwanzig Jahren auf mich!

Die Blicke trafen meine Seele noch nach zwei Jahrzehnten!

Erst erneut viele Jahre später wurde es besser. Zeitzeugen starben, die jüngere Generation kannte die alte Geschichte entweder nur aus Erzählungen, oder gar nicht.

Als Tante Fine starb, gab es für mich keinen Grund mehr nach Telgte zu fahren.

Meine Erinnerungen, Selenqualen und Ängste der vergangenen Zeit  verblassten.

Bis……….

Im September 2019, mehr als fünfzig Jahre später bekomme ich eine E-Mail von meinem Halbbruder.

Er suchte nach seinen Wurzeln in Telgte.

„Die, die hat ein Buch geschrieben. Die sieht genauso aus wie Margret! DIE!“

Stigma, Brandmahl! Mein Stigma, mein Brandmahl!







Mein Name ist Christina Maria Hesse, ich bin 61 Jahre alt und lebe im schönen Hochsauerland in Olsberg. Im April 2016 lernte ich meinen Traummann kennen. Acht Monate später waren wir verheiratet. Mein größtes Lebensglück heißt Uwe.
Schreiben ist meine Leidenschaft, mein erstes Buch „55 Plus 1“ ist seit Dezember 2017 im Buchhandel erhältlich. Es folgten zwei weitere Bücher (Hansi und Jo – 2019, VORIS – 2021) sowie Geschichten für einige Anthologien bekannter Verlage.
www.christinamariahesse.de .







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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