Barbara Schwarzl für #kkl21 „Stigma“
Bittere Momente
Um ein Haar wäre sie in mich hineingelaufen. Als sie ihren Kopf aufrichtete, taumelte sie nicht vor Freude, sondern wich abrupt von mir zurück. Ich las in ihren Augen blankes Entsetzen, als sehe sie ein Ungeheuer.
„Schön, dich wiederzusehen“, sagte ich und versuchte mit meinem Lächeln, den Bann zu brechen und sie damit an gemeinsame, fröhliche Stunden zu erinnern.
Aber ihre Miene entspannte sich nicht.
„Lass uns das Wiedersehen mit einem Kaffee feiern“, schlug ich vor. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie wie alle anderen reagierte.
Sie schüttelte energisch ihren hübschen Kopf, als könnte sie mich damit abschütteln. Dabei würgte sie eine Ausrede wie Unverdautes hervor und sah mich an, als müsse sie sich sofort übergeben.
Passanten rempelten und pöbelten mich an, weil ich das Trottoir blockierte. Das perlte an mir ab wie Tau von einer Lotosblüte, nicht jedoch, dass die nächste Freundin aus meinem Leben flüchtete. So wie es andere vor ihr schon getan hatten, nachdem sie von meiner Erkrankung erfahren hatten.
Obwohl ich sie nur mehr als kleinen Punkt wahrnahm, sah ich ihr noch immer nach und hoffte, dass sie umkehrte. Ich fühlte mich leer, verletzt und von aller Welt verlassen.
Vielleicht hatte ich sie mit meiner übergroßen Freude erst recht verstört, überlegte ich. Hatte ich ihre Befürchtung, irre oder wirr im Kopf zu sein, damit erst recht bestätigt?
Wenig später kam der nächste Schlag in die Magengrube.
„Hallo Klara!“, rief mir die kleine Pia von der Schaukel winkend in unserem Hof zu.
Ich freute mich so sehr über diesen warmherzigen Empfang, dass ich sie am liebsten vor Dankbarkeit geherzt hätte.
Dafür gab es keine Gelegenheit.
Plötzlich eilte ihre Mutter herbei. Pia schlug mit ihren Händen laut protestierend um sich. „Ich will mit Klara spielen!“, rief sie, aber ihre Mutter zog sie hinter sich her.
„Mama, warum darf ich nicht zu Klara?“
„Ich will nicht, dass du Kontakt zu ihr hast. Basta.“
„WARUM?“, rief Pia in einer Lautstärke, dass die Fenster zu bersten drohten.
„Die ist nicht richtig im Kopf“, hörte ich die Mutter antworten.
Die kleine Pia verteidigte mich mit ihrem großen Herzen. Aber ihre Worte und ihre Tränen stimmten ihre Mutter nicht um.
Im Stiegenhaus öffneten sich nacheinander die Türen. Natürlich meinetwegen und vielleicht auch wegen Pia. Im Erdgeschoss lauschte ich dem Gespräch meiner Nachbarn, die Pias Mutter den Ritterschlag gaben. Ich erschrak vor ihrer Geschlossenheit.
„Wer weiß, was ihr ihre Stimmen das nächste Mal zuraunen?“, warf der pensionierte Major ein.
„Genau! Sie ist gefährlich“, sagte Frau Huber aus dem ersten Stock.
„Schizophrenie soll eine ganz schlimme Krankheit sein, noch dazu ohne Heilung“, warf Frau Moser ein.
„Gut, dann sind wir uns einig, wir müssen ihren Rausschmiss erreichen“, gab sich Pias Mutter kampfeslustig wie eines der vier Musketiere.
Wie vom Donner gerührt verharrte ich im Erdgeschoss. Mir fehlte der Mut, vorbei an den siegesgewissen Musketieren nach oben in meine Wohnung zu gehen.
Aber Mut erwies die kleine Pia, auf die die Erwachsenen in ihrem Blutrausch vergessen zu haben schienen. „ICH WILL NICHT, DASS KLARA GEHEN MUSS!“, rief sie und ihr Echo hallte in unserem Altbau lange nach, gefolgt von bitterlichem Weinen.
In diesen bitteren Momenten hielt ich mich am Treppenlauf fest, denn ich drohte, zu taumeln. Sie verunsicherten mich mit ihrer Feindseligkeit. Obwohl mir meine Nerven manchmal Streiche spielten, war ich dennoch ein Mensch mit Rechten. Zuletzt waren die Streiche seltener geworden. Am liebsten hätte ich in alle Welt hinausposaunt, dass ich kein Monster war. Aber ich brachte keinen Pieps raus. Meine Medikamente stabilisierten mich, wie mein Psychiater zu sagen pflegte, aber ebenso lähmten sie mich. Wahrscheinlich hätten mir diese Bluthunde sowieso nicht geglaubt, dass meine psychische Erkrankung nicht ansteckend oder dass ich keine Gefahr für meine Umwelt war, weil ich eben keine Psychopathin war; dass mein Intellekt nicht beeinträchtigt war, dass ich meiner Arbeit nachging und meine Rechnungen pünktlich bezahlte. All das dachte ich mir nur.
Einen Wimpernschlag lang befürchtete ich, dass ich wieder halluzinierte. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, als Geste der Verbundenheit.
„Hört auf damit!“, erkannte ich die Stimme des jungen Studenten rufen, der manchmal so laut Technomusik hörte, dass ich einen Stock tiefer die Vibrationen seiner Boxen spüren konnte.
Die Stimmen der aufgeregten Hausbewohner überschlugen sich.
„Herr Major, erkennt sie ihre demente Frau noch? Frau Moser, schön, dass Sie Ihre Depression nicht mehr beeinträchtigt.“ Die Musketiere fielen dem Studenten echauffiert ins Wort.
Aber er blieb gelassen und wies mir mit seinem tätowierten Arm an, zu kommen.
Ich stieg langsam die Stufen nach oben.
„Nehmen Sie sich ein Beispiel an der Kleinen“, sagte der couragierte Student.
Das war Pias Stichwort. Sie eilte geschwind zu mir, nahm mich an der Hand und fragte: „Klara, gehen wir jetzt Ballspielen?“
Die vier Nachbarn musterten mich wie ein böses Tier.
Ich warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, aber sie wandte ihren Kopf abrupt ab und stierte in die entgegengesetzte Richtung, als fände sie dort die Lösung aller Probleme.
„Ich habe es mir nicht ausgesucht, psychisch krank zu sein. Bitte brandmarken Sie mich nicht“, sagte ich mit zitternder Stimme in die Runde.
Nachdem mir der Student kumpelhaft auf die Schulter geschlagen hatte, ging er lässig an den anderen vorbei. „Nächste Woche erwarte ich sie beim Treffen der Selbsthilfegruppe ¨Angehörige und Freunde psychisch Kranker¨. Details folgen auf dem schwarzen Brett. Denn nur mit Wissen kann man Vorurteile abbauen.“
Jetzt hatte es den Nachbarn die Sprache verschlagen.
„In wenigen Jahren können sie gerne zu mir in die Psychotherapie kommen.“ Dann begann er laut zu lachen.
Und ich stimmte in dieses fröhliche Lachen ein.

Barbara Schwarzl arbeitet seit Beendigung ihres Pharmaziestudiums in verschiedensten Apotheken Österreichs. Die schreibende Apothekerin hat ein Faible für Personen mit schwierigen Schicksalen, die aber mit aller Kraft für ein besseres Leben kämpfen und sich niemals unterkriegen lassen. Fasziniert von den Untiefen der menschlichen Seele widmet sie sich in ihren psychologischen Romanen unbequemen Themen, die zum Nachdenken anregen. Darüber hinaus schreibt sie gerne Reiseliteratur.
Seit Erscheinen ihres Buches „Spurensuche. Diagnose Schizophrenie“ setzt sie sich – auch in den sozialen Medien – gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker ein.
Veröffentlichungen:
„Reise quer durch Estland, Lettland und Litauen„, ein Reisetagebuch
„Alles anders. Auf Umwegen angekommen„, ein Roman über Venedig und die Normandie
„Spurensuche. Diagnose Schizophrenie„, eine Mischung aus Roman und Sachbuch
„Dreierblues“, eine Roadnovel bzw. ein Reiseroman über die Dominikanische Republik, psychologischer oder Freundschaftsroman
„Nicht ohne meine Schatulle“, ein Roman über Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung bzw. Gewalt in der Familie
„Ich drehe am Rad der Zeit“, eine Kurzgeschichte erschienen im August 2022 in der Anthologie „Das Rad der Zeit“ im Papierfresserchen Verlag
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