Mayke Dorn für #kkl25 „Raum“
Alles und Nichts
Es brodelt in meinem Inneren. Das Brodeln hat mich geweckt. Ich habe Hunger. Ich bin Hunger. Es ist mein erstes Gefühl und es ist alles, was ich bin. Aber da ist auch ein Wille zu etwas… Großem. Tief in mir steigt Druck auf, drückt sich gegen meine Grenzen und ich spüre meine Haut sich dehnen, spannen. Wird sie reißen unter diesem Zug?
Der Druck ist das zweite, was ich spüre, nachdem ich erwache. Schon als Kind so unter Druck zu stehen – Fürchtet, was da kommen wird, denn es wird groß und wild.
Das dritte, dem ich gewahr werde, ist das Ausmaß meines Raumes: Zehn mal zehn mal zehn. Ich habe keine Maßeinheit, erfind‘ mir jemand eine. Würfelförmig jedenfalls… wer hat sich das ausgedacht? Ein Würfel soll es also sein. Und es wird gewürfelt werden, denn alles ist Zufall, alles ist vorherbestimmt. Aber woher soll ich das wissen? Ich bin jung, ich bin klein, zehn mal zehn mal zehn ist mein Leben, so groß wie ein Pulsschlag. Ich muss raus aus diesem Würfel, diesen Schranken, diesem limitierten Leben. Aber ich kann nicht nach draußen gucken. Das spielt auch keine Rolle, denn draußen ist nichts, nicht einmal ein Draußen selbst. Trotzdem finde ich es schade, nicht ‚rausgucken zu können. Ich kann es nicht und niemand sonst, denn ich bin hier… allein. Ich habe noch nie jemand anderes gesehen.
Wohl meine ich, Stimmen in meinen Träumen raunen gehört zu haben: Erzählungen, Geheimnisse, Wiegenlieder, Verbrechen, Trost – Versprechungen für alles, was ich eines Tages werde sehen können, was ich hören, schmecken und riechen werde. Aber nie kam ein Sprecher zu mir. Wer sind meine Eltern? Wer ließ mich hier allein zurück, mit diesem furchtbaren Druck, mit dieser Wut und dieser Freude? Ich will die Sterne sehen, die in meinen Träumen blitzten, die Stimmen finden, die sich im Schwarz zwischen den Planeten verstecken, das erste Wesen sein, was eine Primzahl küsst.
Der Druck steigt weiter in mir. Ich halte so viel Energie, dass es schmerzt. Es reißt an meinen Grenzen… Ich muss raus!
Fürchtet euch, die ihr mich hier ausgesetzt habt, denn wenn ich groß bin, werde ich unberechenbar sein. Ihr seid nicht hier und seid doch schon da – trotzdem bin ich allein, bin alles und nichts. Zeit, zu gehen.
Das Brodeln wird unkontrolliert, ich unterdrücke mehrere Anfälle von Schluckauf – haben alle kleinen Kinder Schluckauf? – und mein Magen tobt. Jetzt wird mir heiß, so unfassbar heiß. Ich. Muss. Raus. Muss. ICH!
Ich werde die Grenzen meines Gefängnisses sprengen und über das Nichts hinweg rollen, es verdrängen, verschlingen, wenn es nicht schnell genug schwindet. Und ich will Lampen entzünden, riesige Laternen, es ist so dunkel am Rande meines Gesichtsfelds. Ich liebe das Dunkel…
Etwas Neues steigt in mir auf, kein Schluckauf diesmal. Ich zerkoche vor Energie, ich explodiere schier! Wie soll man leben auf zehn mal zehn mal zehn – niemand hat mich erzogen, bescheiden zu sein, niemand hat mir das hier als Grenzen gesetzt. Ich will mehr. Wer würde wagen, mir Vorschriften zu machen? Wer KANN mir Vorschriften machen?
Ich bin allein. Ich bin alles, was es hier gibt. Ich BIN das alles – ich muss atmen. Ich bin das All und ich dehne mich jetzt aus!
Mayke Dorn
ist in den 80ern in Norddeutschland geboren und in den 2010er Jahren aus Versehen in Westfalen gestrandet. Von Beruf ist sie Grafikerin, aber im Job verheimlicht sie, dass sie das Wort manchmal mehr liebt als das Bild. Am liebsten schreibt sie Fantastisches, denn von der Realität sieht sie jeden Tag eine ganze Menge.
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