Hinter dem Vorhang der Krieg.

Frauke Schuster für #kkl28 „Dahinter“




Hinter dem Vorhang der Krieg.

Morgens. Ein Knall. Scheiben klirren. Das Mädchen schreckt aus dem Schlaf. Schaut zum Fenster. Der Vorhang wackelt. Kairo in den 1960ern ist laut. Immer. Aber nicht so laut, normalerweise. Der Atem des Mädchens, schnell. Die Bomber der Israelis, nahe. Zu nahe? Sie wickelt sich in die Bettdecke, den Blick zum Fenster.

Der Vorhang beruhigt sich. Bebt nicht mehr. Die Stimmen der Eltern, im benachbarten Zimmer. Aufgeregt. Bemüht leise. Dann Stille.

Hinter dem Vorhang der Krieg. Alltag.

Vormittag. Das Mädchen im Klassenzimmer. Aufsatz. Sie mag Sprachen. Deutsch, Französisch, Arabisch. Sie beugt sich über das Blatt. Die Zunge zwischen den Zähnen. Sie schreibt über den letzten Sonntag. Wir fuhren nach Dahsur. Die gelben Wüstenhunde schliefen im Sand. Sie liebt Dahsur. Rote Pyramide und Knickpyramide. Zwischen den Monumenten sucht sie nach Schätzen. Träumt von einem spektakulären Fund. Tutanchamun. Statuen. Gold …

Sirenen. An- und abschwellend. Heulton. Die Köpfe der Schüler rucken hoch. Fenster auf und Vorhang zu! befiehlt der Lehrer. Das Mädchen steht auf, öffnet das Fenster. Der Alarm jetzt ohrenbetäubend. Rasch zieht sie die Vorhänge mit dem Blumenmuster zu. Die Fenster müssen offen stehen. Wegen der Druckwellen. Die sonst die Scheiben splittern lassen. Das weiß jedes Kind. Kein Füller bewegt sich. Alle warten auf die Flieger. Das Brummen am Himmel. Später die Bomben. Das Stakkato der ägyptischen Flak.

Bis zum Dauerton der Sirene. Eine Minute. Entwarnung. Vorerst.

Hinter dem Vorhang der Krieg. Alltag.

Abends. Die Mutter trägt die Teller in die Küche. Das Mädchen holt das Geschichtsbuch. Wenig Lust auf Hausaufgaben. Aber sie ist brav, fleißig.

Wieder Sirenen. Heulton. Das Mädchen sieht aus dem Fenster. Unten auf der Straße Autos. Die Scheinwerfer dunkel angemalt. Oder zugeklebt. Vorschrift. Die Mutter schiebt das Mädchen zurück. Zieht den schwarzen Vorhang zu. In der Wohnung Verdunklung. Auch Vorschrift. Der Vater dreht das Radio an. Deutsche Welle.

Die Lampe über dem Tisch flackert, erstirbt. Das Radio verstummt. Stromausfall. Die Mutter zündet Kerzen an. Kerzen und Streichhölzer in jedem Zimmer. Außer bei den Kindern. Das Mädchen legt das Buch beiseite. Nimmt Papier und Buntstifte. Malt. Flugzeuge über Palmen. Über dem Haus das tiefe Brummen. Die Bomber.

Hinter dem Vorhang der Krieg. Alltag.

55 Jahre später. Deutschland. Die Frau näht einen Vorhang. Zartgrün und weiß. Fast transparent. Sie denkt an Kairo, in den 1960ern. Ägyptisch-israelischer Abnutzungskrieg. Vorhänge, die nach Detonationen wackeln. Vorhänge, die geschlossen werden. Verdunklung. Damals, als der Vater in Ägypten arbeitete. Als die Familie am Nil wohnte. Als sie wusste, wie sich Flak anhört, aber nicht, wie man das Wort schreibt.

Die Nähmaschine rattert. Im Hintergrund der Fernseher. Spricht von Krieg. Von Explosionen. Bomben, die auf Häuser fallen. Ukraine.

Der Vorhang ist fertig. Die Frau hängt ihn vors Fenster. Hübsch.

Im Fernsehen die nächsten Explosionen. Hinter dem Vorhang der Krieg.

Weiter entfernt als damals, in Kairo. Und doch erschreckend nah. Alltag.




Frauke Schuster

Frauke Schuster, geboren 1958, verbrachte den Großteil ihrer Kindheit in Kairo, Ägypten. Später studierte sie in Deutschland Chemie und arbeitete anschließend für eine Chemie-Fachzeitschrift. Frauke Schuster schreibt Krimis und andere Romane, teils unter Pseudonym, sowie Kurzgeschichten auf Deutsch und Englisch.

Website: www.frauke-schuster.com







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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