Martin A. Völker für #kkl13 „Über den Tellerrand“
Eine flog über den Tellerrand
Eingetrocknet, faltig, braun: Der Rosine gehört das Ende. Für das morgendliche Müsli taugt sie kaum noch. Die fein-säuerlichen Berberitzen haben ihr dort längst den Rang abgelaufen. Dem Käsekuchen verunziert die Rosine das goldgelbe Gesicht. Bleiben soll sie, wo der Pfeffer wächst. Als Beigabe zum Hirschrücken, im Zusammenspiel mit Portwein, grünem Pfeffer, Thymian, Honig und Zitronenzesten, kann die Rosine ein letztes Mal zeigen, was sie kann: nicht viel und doch irgendwie geschmackvoll dabei. Aber welche Lächerlichkeit? Hier der Hirsch, der Stolz des Waldes, dort die Rosine, die vergreiste Weintraube, der nahende Tod. Sie hat sich bemüht, die Rosine. Wie wenig zählt indes die Bemühung? Fast jedes Schulzeugnis erzählt diese traurige Geschichte. Ihr dauerhaftes Küchenbleiberecht hat sie verwirkt. Flucht in den Alkohol. Er zieht die Rosine in die Tiefe. Abwärtsspirale, die sie dennoch, auf wundersame Weise, nach oben katapultiert. Der Rum spendet ihr neue Kraft. Die Rosine saugt sich voll mit Spätsommer. Ohne den Rum kommt sie nicht mehr aus, findet unmöglich allein den Weg in die Küche zurück. Die Rum-Rosine schmeckt nach Vergangenheit, nach alten Leuten, sie schmeckt den jungen Leuten, welche ebenso alt werden, wie die Rosine es voraromatisiert. Rum-Rosinen essen ist wie Sterben. Sie wärmen das Sonnengeflecht und setzen Erinnerungen frei, die Bild für Bild den letzten Film ergeben. Wer möchte da ewig leben?

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
Interview mit #kkl HIER
Über #kkl HIER