Die menschliche Freiheit inmitten von Abhängigkeiten

Lea-Sophie Brendel für #kkl16 „Der freie Wille“





Die menschliche Freiheit inmitten von Abhängigkeiten
„Ich wohne in mir, wie in einem fahrenden Zug. Ich bin nicht freiwillig eingestiegen, hatte nicht die Wahl und kenne den Zielort nicht. Eines Tages in der fernen Vergangenheit wachte ich in meinem Abteil auf und spürte das Rollen. Es war aufregend, ich lauschte dem Klopfen der Räder, hielt den Kopf in den Fahrtwind und genoss die Geschwindigkeit, mit der die Dinge an mir vorbeizogen. Ich wünschte, der Zug würde seine Fahrt niemals unterbrechen. Auf keinen Fall wollte ich, dass er irgendwo für immer hielte. Es war in Coimbra, auf einer harten Bank im Hörsaal, als mir bewusst wurde: Ich kann nicht aussteigen. Ich kann das Geleise und die Richtung nicht ändern. Ich bestimme das Tempo nicht. (…) Ich kann das Abteil nicht wechseln. (…)“ (S.423)
In diesem Abschnitt des Buches, Nachtzug nach Lissabon, geschrieben von Pascal Mercier, wird der Charakter Prado von dem Gefühl überwältigt eingesperrt in seinem eigenen Leben zu sein. Überzeugt davon, dass er nie eine Wahl hatte, weder zu leben noch zu sterben, und auch nicht wie sein Leben verlaufen soll, zweifelt er im Buch nicht nur die Sinnhaftigkeit seines Lebens, sondern auch seine eigene Freiheit in diesem an. Dieser Zweifel an der eigenen Freiheit ist geradezu erschütternd, wenn man sich bewusst ist, wie stark die menschliche Existenz auf der Idee des freien Willens basiert. Das gesamte demokratische politische System, das juristische System und jedes ethisches Dilemma geht davon aus, dass der einzelne Mensch in seinem Willen frei ist, und sich auch anders hätte entscheiden können. Allerdings ist der Schriftsteller Pascal Mercier nicht der Einzige, der dieses gedankliche Grundkonstrukt des Menschen anzweifelt. Es gibt auch viele moderne deterministische Wissenschaftler der Physik, Neurologie und Psychologie, welche ebenfalls die Existenz und den Einfluss eines solchen „freien“ Willens abstreiten. Die Frage ist also, wie „frei“ eine „eigene“ Entscheidung gefällt werden kann, und ob man sich auch anders hätte entscheiden können.
Betrachtet man hierbei zu Beginn das Erklärungsmodell der klassischen Physik von Jürgen Schröder, kommt man zu der Annahme, dass man „selbst“ nicht wirklich eine Wahl hat. In diesem Modell wird nämlich davon ausgegangen, dass „aus jedem Zustand des Universums nur genau ein Folgezustand hervorgehen kann“. Dementsprechend sind alle Bewegungen, alle Gedanken und Ereignisse schon vor Urzeiten festgelegt worden, und Entscheidungen werden nicht von uns „selbst“, sondern von einer „unpersönlichen Kausalkette“ getroffen. Diese Kausalkette kann man auch mit dem „unaufhaltbaren“ Zug vergleichen, der im obengenannten Zitat beschrieben wurde. Man hatte nicht wirklich die Wahl einzusteigen und hat auch keinen Einfluss wie die Fahrt verläuft, da diese bereits festgelegt ist und in gewisser Weise nur noch „abläuft“. Nach diesem Modell bleibt zwangsläufig auch kein Platz für einen Willen, geschweige denn für einen freien Willen, welcher in irgendeiner Hinsicht dazu befugt sein soll in die Kausalkette einzugreifen und mitzuwirken.
Zu diesem Punkt passen auch die neurophysiologischen Experimente Benjamin Libets, der ebenfalls die Phänomene von Ursache und Wirkung hinterfragt. „Tun wir also was wir wollen, oder wollen wir was wir tun?“ (die Frage basiert auf ein Zitat von Wolfgang Prinz)

Um diese Frage zu beantworten untersuchte Libet im Jahr 1979 zum einen den Entstehungszeitpunkts des neurologischen Bereitschaftpotentials beim Treffen einer Entscheidung, und zum anderen den Zeitpunkt, bei dem die Entscheidung bewusst getroffen wurde. Dabei kam er auf das Fazit, dass nicht das bewusste „Selbst“ die Entscheidung trifft, sondern bereits festgelegte biologische Prozesse, und dass das Bewusstsein höchstens ein Veto erheben kann, da seiner Messungen nach, die neuronale Bereitschaft zu einem Entschluss bereits vor dem bewussten Entschluss bestünde. Jedoch sollte man an dieser Stelle Libets Versuche auch skeptisch betrachten, da es zum einen schwer möglich ist den wirklichen Zeitpunkt einer bewussten Entscheidung festzustellen, und zum anderen die Neurowissenschaft im Jahr 1979 noch nicht so weit fortgeschritten war, wie in der heutigen Zeit. Allerdings lässt sich festhalten, dass die Frage nach Ursache und Wirkung elementar für die Frage des freien Willens ist.
An dieser Stelle kann man nun auch ein moderneres physikalisches Konzept einbringen, welches die gesamte Frage nach Kausalität auf den Kopf stellt. Es handelt sich hierbei nämlich um die Erkenntnisse der Quantenphysik, wodurch die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung noch weniger definierbar werden. Es wird nämlich nun eine holistischere Perspektive eingenommen, da sich nach der Superposition in der Quantenphysik mehrere Größen überlagern können. Somit kann ein Quantenobjekt in gewisser Hinsicht in verschiedenen Zuständen gleichzeitig existieren. Im klassischen Fall folgt Zustand B auf A, sind jedoch Superpositionen vorhanden sind auch die Reihenfolgen von Operationen überlagert, also Zustand A kommt vor B, und zugleich kommt B vor A. Man sieht also, dass die Frage nach Ursache und Wirkung nach heutigen Wissenschaften nicht zielführend ist. Oder man kann nur sagen, dass sich beide Phänomene zwangsläufig gegenseitig bedingen, und demnach das Wollen das Tun, und die Tat den Willen beeinflusst. Jedoch bleibt an diesem Punkt weiterhin das Wesen des „freien“ Willens offen, und besonders essenziel ist die Frage, wovon der Wille überhaupt frei sein soll.
An dieser Stelle könnte man mit dem Begriff der Autonomie starten, welcher meist als Übersetzung für menschliche Freiheit verwendet wird. Der Mensch ist frei, wenn er selbstbestimmt ist. Somit ist auch der Wille frei, sobald dieser gänzlich von einem „selbst“ geformt wird, und unabhängig von jeglicher Fremdbestimmung ist. Wenn nun also die gesamte menschliche und Willens Freiheit von einem „selbst“ abhängt, muss man notwendigerweise nach dem anthropologischen Wesen des „selbst“ fragen. Diese Frage würde allerdings ein noch größeres Thema der Anthropologie eröffnen, weshalb hier nur der Frage nachgegangen werden soll, wie dieses „selbst“ gebildet wird.
Zum einen könnte man hierbei von einem empirischen Standpunkt ausgehen und sagen, dass man „selbst“ als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt, und im Laufe des Lebens durch Erfahrungen geformt wird. Demnach wird das „selbst“ durch biologische Veranlagungen, frühkindlicher Prägung, Hormone, gesellschaftlichen Gegebenheiten und vielen weiteren äußeren Bedingungen geformt. Also wäre das „selbst“ in gewissermaßen durch empirische Einflüsse fremdbestimmt, was jedoch zu einem schwierigen Dilemma führen würde. Denn wenn nicht einmal das „selbst“ unabhängig sein kann, wie soll dann der Wille frei von Fremdbestimmungen sein? Und entspringt der Wille an sich dann nicht auch einem fremdbestimmten Produkt?

Die einzige Lösung an dieser Stelle ist eine Art von dualistischem Weltbild. Hier knüpft auch Kant an, der den menschlichen Charakter zum einen in einen empirischen Teil und zum anderen in einen intelligiblen Teil aufspaltet. Dieser intelligible Charakter gibt dem Menschen nach Kant die Fähigkeit zur Freiheit, da hier das Vermögen sitzen würde „einen Zustand von selbst anzufangen“. Dies wird nach Kant durch die menschliche Vernunft ermöglicht, welche dem Menschen die Fähigkeit verleiht Abstand von seinem empirischen Charakter zu nehmen und einen „objektiven“ Standpunkt einzunehmen. Demnach besitzt man die Möglichkeit sich von seinem Subjekt „ich“ loszulösen, und unabhängig von empirischen Erfahrungen oder jeglichen Kausalitäten, Möglichkeiten abzuwägen und sich zu entscheiden. Diese Fähigkeit zur Objektivierung ist nicht nur bei Kants Argumentation für den freien Willen elementar, sondern findet sich zum Beispiel auch bei Satre wieder. Der Mensch ist in seinen Augen nämlich das einzige Wesen, welches Für-sich ist, und die Fähigkeit zur Nichtung besitzt. Damit ist gemeint, dass der Mensch sich aus seinem gegenwärtigen Zustand heraus denken und in einen anderen Zustand hineindenken kann. Der Mensch kann sich Vor-stellen, was nicht ist und somit seine eigene Zukunft „entwerfen“, wodurch er wiederum die Fähigkeit hat sein Wesen „selbst“ zu formen. Hierbei greift Satre jedoch auch wieder die Frage nach Wirkung und Ursache auf, in dem er seine grundlegende These aufstellt, dass der Mensch das einzige Wesen ist, bei welchem die Existenz dem Wesen vorausgeht und somit der Mensch sich sogar selbst entwerfen muss und dazu verurteilt ist frei zu sein. Allerdings ist die Aussage nach heutigem Stand, wie bereits zu Beginn erläutert, nicht so einfach zu bejahen, und man müsste sich an der Stelle vermutlich eher an einen weiteren wichtigen Vertreter des französischen Existentialismus halten, der meinte, dass es zwei Irrtümer gäbe: „die Existenz geht der Essenz voraus oder die Essenz der Existenz. Sie gehen und erheben sich beide im gleichen Schritt.“ (Albert Camus). Jedoch kann man trotzdem an Satres Meinung über die menschliche Fähigkeit zu Nichtung, und an Kants Vorstellung der Vernunft bei der Argumentation über den freien Willen festhalten. Allerdings ist weiterhin die Frage nach einer selbstbestimmten Entscheidung aussichtslos, da die Entscheidung entweder in jeder Hinsicht fremdbestimmt und determiniert oder durch eine Subjektunabhängige Instanz beeinflusst wird, wobei in beiden Fällen das „selbst“ nicht entscheidet. Demnach muss man zu dem Entschluss kommen, dass der freie Wille nach der Definition gänzlicher Unabhängigkeit, entweder eine Illusion oder Utopie ist. Dies wird eigentlich sogar schon deutlich, wenn man sich die Definition an sich ansieht. Ist der Wille geformt von einem „selbst“, ist der Wille abhängig und durch vieles Bedingt, ist der Wille jedoch unabhängig und frei, kann man diesen Willen nicht mehr als seinen eigenen bezeichnen.
Jedoch sollte man an dieser Stelle nicht einfach eine Nonexistenz hinnehmen, da der freien Willens, wie zu Beginn erwähnt, essenziell für den Menschen ist. Stellt man sich nämlich vor was passieren würde, wenn niemand mehr an den freien Willen glauben würde, würde sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft in einem purem Chaos enden. Die einzige logische Schlussfolgerung ist also, dass die Definition des freien Willens erneuert werden muss. Gibt es also eine eine Möglichkeit die Freiheit irgendwo innerhalb von Fremdbestimmungen, und eingesperrt im eigenen Abteil zu finden?

Vielleicht sollte man für diese Frage die Determiniertheit an sich von Grund auf anders betrachten. Das eigene Wollen ist zweifellos durch äußere und innere Bedingungen beeinflusst. Jedoch könnte man nun auch sagen, dass diese Bedingungen erst ein Wollen ermöglichen können. Betrachtet man hierfür Freuds Menschenbild, befindet sich das „ich“ oder das „selbst“ immer zwischen den beiden Polen des ES und des Über-Ichs. An dieser Stelle ist es nun eine Frage der Perspektive, ob man sagt, dass das ES und das Über-Ich, das „ich“ einschränken, oder erst die Existenz des „Ichs“ ermöglichen. Das ES wird hierbei durch biologische Veranlagungen und nach Freud „tierischen Trieben“ gebildet, während auf der anderen Seite das Über-Ich, von äußeren Einflüsse der Gesellschaft und Erziehung geformt wird. In der Mitte liegt nun das Ich, welches zwischen den beiden Polen abwägen muss. Hierbei ist besonders zu beachten, dass beide Pole notwendig für das „ich“ ist. Gäbe es nur das ES oder nur das Über-Ich, gäbe es auch kein „ich“, dessen Aufgabe es ist sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen. Man könnte also an diesem Punkt sagen, dass die Freiheit des Menschen in dem Spannungsfeld und dem Bewegungsfreiraum zwischen äußeren und inneren Einflüssen liegt. Somit ist die Freiheit zutiefst abhängig von Fremdbestimmung, aber wird auch erst durch diese verursacht. Der Mensch braucht demnach immer Paradoxe Einflüsse, um überhaupt die Möglichkeit zu haben eine Meinung zu bilden. Diese Form der Freiheit, welche erst durch Bedingungen verursacht wird, kann man auch mit einer dualistischen Denkweise des Lebens vergleichen. Erst wenn ein stofflicher Körper, und eine Art Energie aufeinander treffen, kann dazwischen das Leben existieren.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Gedankenkonstrukt des freien Willens notwendig für den Menschen ist, da nur dadurch gesellschaftliche Systeme, Schuld und Recht und eigene Entwicklung möglich ist. Die genauere Definition des freien Willens ist jedoch um einiges schwieriger, da meistens gänzliche Unabhängigkeit als ein Synonym verstanden wird. Ginge man nach einer solchen Definition müsste man sich allerdings damit abfinden, dass der freie Wille eine bloße Illusion ist. Bleibt man jedoch bei der Annahme, dass der Mensch die Fähigkeit zur Objektivierung besitzt und somit deterministisch gegebene Möglichkeiten abwägen kann, muss man nur die Definition des freien Willens verändern. Denn die Freiheit könnte man demnach innerhalb fremdbestimmter, jedoch gegensätzlicher Gegebenheiten finden. In dem die Natur nämlich Paradoxe und somit ein Spannungsfeld vorgibt, wird ebenfalls die Möglichkeit geschaffen innerhalb dieses Feldes „frei“ abzuwägen und sich „frei“ zwischen den Polen zu bewegen. Somit ist zwar eine Art von dualistischem denken notwendig, kann aber gleichzeitig auch holistisch gesehen werden, da sich alles, wie in der Quantenphysik und Ursache und Wirkung, gegenseitig und gleichzeitig bedingt. Und um abschließend wieder auf das Zitat vom Anfang zurückzukommen, könnte man schlussendlich sagen, dass auch Prado sich innerhalb seines Abteils „frei“ bewegen und verhalten kann, auch, wenn er weder das Abteil noch den Zug gewählt hat.




Am 05.07.2004 kam ich mit dem Namen Lea-Sophie Brendel in Berlin auf die Welt. Seitdem lebe ich in Potsdam und besuchte die evangelische Grundschule, und werde dieses Jahr mein Abitur auf dem evangelischen Gymnasium Hermannswerder absolvieren. Auf die Frage, warum ich gerne schreibe oder lese, gibt es nicht unbedingt eine klare Antwort, zumal ich selbst auch hauptsächlich philosophische Essays schreibe und noch nicht so viel Erfahrung mit lyrischen Texten habe. Sagen wir einfach ich bin beim Lesen interessiert, andere Gedanken und Gefühle zu erkunden und beim Schreiben meine eigenen Emotionen und Meinungen genauer zu erforschen.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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