Zweite Kassa bitte

Fabian Wakolbinger für #kkl16 „Der freie Wille“




Zweite Kassa bitte

Es war egal, wie ruhig der Morgen war. Egal, wie ruhig es den Vormittag über ging. Mit den alten Mütterchen, die ihren Wocheneinkauf erledigten, den Schülern, die sich mit Monster Energy eindeckten, weil ausgeschlafen sein scheiße ist und den avocado- und Knäckebrot kaufenden Angestellten, denen das Leben  einen sinnhaften, befriedigend Job verwehrt hat, weshalb sie sich jetzt aus irgendeinem Grund selbst glücklich machendes, befriedigendes Essen verwehrten. Egal, wie beinahe erträglich diese wenigen Stunden in der örtlichen Billafiliale waren. Irgendwann, ohne Vorwarnung, aber dafür mit absoluter Sicherheit, ertönte er von irgendwo her, der gefürchtete Ruf.

Zweite Kassa bitte.

Nie war es abzusehen, wer es war, der den Sisyphusfelsen, welchen die Mitarbeiterinnen sowieso schon den ganzen Tag zu rollen hatten, ins chaotische Schleudern bringen würde. Den wir uns übrigens, den Sisyphus, nicht den Felsen, im Gegensatz zu Camus, weil wir keine von jeder Realität losgelösten französischen Philosophen sind, absolut nicht als glücklich vorstellen, sondern als Wesen, welches sich voll und ganz darüber im klaren ist, dass es seine begrenzte Zeit auf dieser Erde damit verbringt, alle Energie darauf zu verwenden, eine von jedem Sinn befreite und von jeder gerechten Belohnung beständig einen Respektabstand haltende sich immer und immer wiederholende Handlung auszuführen. 

Es konnte wirklich jeder sein, jeder einzelne von diesen unscheinbaren, sich in ihrem letztendlichen Zwecke so sehr gleichenden Gestalten. Sie konnten noch so freundlich hereintreten, noch so aufmerksam und lieb fragen, wo es denn die vegetarische Salami gibt, ob man diese Semmeln, wenn sie trocken sind, auch ganz sicher zu Paniermehl verarbeiten kann oder ob die Avocados, die am Morgen noch frisch und straff waren, aber nach all den Testdrücken der zahlreichen Kundschaft, weil sich ja alle unbedingt vergewissern mussten, ob die Avocados wirklich frisch und straff sind, bereits in der Mitte des Vormittags überreif und gatschig wirkten, auch ganz sicher aus veganen und biologischen Bergdorfgemeinschaften im Südatlantik kommen, denn das kann man bei einem Preis von 99 Cent pro Stück durchaus verlangen. Egal wie lieb und freundlich sie anfänglich taten. Eine dieser Personen weckte das kollektive Bedürfnis nach einer zweiten Kassa. Und mit ihr das Chaos.

Da gibt es auf der einen Seite das kausale Chaos, das direkt mit der Forderung nach einer zweiten Kassa zusammenhängende. Eine der Mitarbeiterinnen muss dort hin. Dadurch fehlt er oder sie zwangsläufig woanders. Was dort dann eben auch zu Chaos führt. Natürlich, eine Mitarbeiterin fehlt, und man braucht wiederum Mitarbeiter, um die zur Kassa Gehende zu ersetzen, woraufhin dann woanders wieder eine fehlt. Dies führt dann, weil man die erste Kasse nicht zumachen kann, nur weil man die zweite aufmacht, zwangsläufig dazu, dass im ganzen Geschäft, an jeder Stelle, eigentlich eine Mitarbeiterin fehlt. Und jetzt bitte nicht mit Pseudologik kommen, von wegen der Rechnung stimmt ja nicht, die geht nicht auf, es fehlt ja trotzdem nur eine Mitarbeiterin an einer anderen Stelle. Diesen Theoretikerinnen empfehle ich mal, sich hinter die Feinkosttheke oder zum Regaleeinräumen zu stellen, wenn nach der zweiten Kassa gerufen wird. Und glaubt mir, liebe Elfenbeinturmbewohnerinnen, ihr werdet schnell erfahren, dass überall, an jeder einzelnen Stelle ein Mitarbeiter fehlt.

Neben diesem kausalen Chaos, und da muss ich jetzt kein Statistiker sein, um darauf zu kommen, aber erwähnen muss man es trotzdem, sind ja die Leserinnen auch nicht mehr das, was sie mal waren, gibt es das korrelierende. Und weil man Korrelationen besser in der freien Wildbahn beobachten kann, begeben wir uns aus der Metaebene direkt hinter die Kassa, an der Dominik gerade die dritte Tüte Taschentücher über den Scanner zog, nichts Böses denkend und eigentlich ganz zufrieden mit sich und der Welt, als er nur leise, fast nicht zu hören im gewöhnlichen Supermarktlärm, aber für sein gebranntes Unterbewusstsein klar wahrnehmbar den gefürchteten Ruf hörte.

Zweite Kassa bitte.

Das Gehirn, geübt und durch Trauma geschult, ließ diesen Ruf erst mal gar nicht weiter ins Bewusstsein durch. Blockte die Worte ab, und legte den Fokus auf die Arbeit vor sich. Was den Rufer nach der zweiten Kassa nicht unbedingt befriedigte und ihn den Appell ein weiteres Mal wiederholen ließ.

Zweite Kassa bitte!

Zäh drangen diese Worte in das Gehirn Dominiks, unwillig, zögerlich hob er seinen Blick.

Kein besonderer, kein herausragender Mensch war es, der sich hier so hervortun musste. Ein beliebiger alter Österreicher, offensichtlich alleine lebend, zumindest dem Inhalt seines Warenkorbes nach zu urteilen. Dominik kannte ihn, hatte ihn oft genug gesehen, oder Männer, die so ähnlich sind, dass es keinen Unterschied machte. Diese Männer, die sich aufregen über alles und jeden, über jedes Übertreten einer Ordnung, für die sie sich selbst verantwortlich fühlen, für deren Erhalt und Organisation sie aber absolut nichts beitragen. Die dann heimlich schimpften und wüten, aber nur so lange sie sicher sind, dass niemand sie hört, der auch nur ein kleines Wort gegen sie sagen würde.

Daneben sind sie natürlich auch alle Rassisten, also kein Wunder, dass der Rufer genau in dem Moment damit begann, als sich zwei junge Burschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund hinter ihm in der Schlange einreihten. Weil so ein Alltagsrassismus aber nicht viel mehr ist als Angst, und sich der ältere Herr angesichts eines möglichen realen Konflikts selbstverständlich nicht traute, seine rassistischen Schimpftiraden auszulassen, musste er seinen Welthass auf eine andere Art und Weise loswerden, jemand anderen mit sich ins Unglück stürzen.

Als er sah, dass Dominik auf sein Rufen reagierte, fühlte er sich bestätigt, mutig, groß. Fand seine Rolle, seine Stimme in der Gesellschaft und äußerte sich, dieses mal richtig lautstark und kräftig, mit stolzgeschwellter Brust, Urösterreichertum aus jeder Pore schwitzend.

Bitte die zweite Kassa aufmachen.

Und mit diesen Worten begann fing es langsam an zu rollen, das korrelierende Chaos.

Vorbei war die Ruhe. Vorbei die klaren Aufgaben, die überschaubare und machbare Herausforderung. Jetzt musste gehandelt, gerannt, improvisiert werden. Dominik musste als allererstes die Information weitergeben, Mitarbeiter zur zweiten Kassa bitten.

Er konnte halt dadurch kurz seine Kassenarbeit nicht weiter machen und der aktuelle Kunde musste in Mitten seiner Bearbeitung warten. Was dieser offensichtlich wichtige und gewichtige Mann, denn wenn jemand einen Anzug trägt, der mehrere tausend Euro, dutzende Arbeitsstunden und den einen oder anderen Kinderfinger gekostet hat, dann muss er wichtig und gewichtig sein, integral für das Funktionieren der Gesellschaft und deren Weiterbestand, also mindestens Krankenpfleger oder Hausmeister, gar nicht gerne sah. Mit einem lauten Schnaufen tat er seine Unzufriedenheit damit kund, dass hier nicht alle seine Avocados auf einmal gescannt wurden, sondern dass er zehn Sekunden warten musste.

Er machte dann auch das einzig Vernünftige in so einer Situation und fing demonstrativ beleidigt an, eine sicher unglaublich wichtige Nachricht auf seinem Handy zu schreiben, wahrscheinlich eine Anleitung für eine Herzoperation oder die Übersetzung der letzten Worte eines sterbenden Familienvaters an seine geliebten Kinder, und würdigte Dominik keinen Blick mehr. Dieser konnte den Idioten schlecht beschimpfen und musste wartend mitansehen, wie die Schlange lang und länger wurde, während er darauf hoffte, dass sich das große Mannbaby vor ihm wieder beruhigen würde. Denn die wartende Menge dahinter wurde nicht nur mehr, sondern im selben Ausmaße auch unruhiger.

Von der Möglichkeit einer möglichen zweiten Kassa ausgehend fingen sie an, sich neu zu organisieren, stellten sich die Frage, zahlt es sich aus zu wechseln, soll ich in der Schlange bleiben, wer wechselt noch, wo sind die Einkaufswägen, wo sind die Körbe, und neben wem will ich absolut nicht stehen. Was auch ein Grund für den Kassenwechsel ist. Denn inmitten der Schlange, von Dominik aus gesehen an fünfter Stelle, stand ein offensichtlich wohnungsloser Herr mit langen weißem Bart, der die Centmünzen in seiner Hand bereits abgezählt bereit hielt, seine Augen fest auf die kleinen Flaschen Leibwächter gerichtet, welche auf dem Regal direkt am Kassentisch so verführerisch glänzten. Um ihn herum hatte sich nach vorne und nach hinten etwas Abstand gebildet, was die Schlange nochmal länger wirken ließ und damit die Ungeduld der Kunden nochmal anfachte.

Wem dieser unhöflich-höfliche Abstand relativ egal war, waren zwei junge Mädchen, die diesen Moment der allgemeinen Unruhe ausnutzten und im offensichtlichen Glauben, niemand würde merken, dass sie eine Schnapsflasche, auf der klar erkennbar ein Alarmsensor angebracht war, unter dem Pulli versteckt hatten, ohne zu zahlen das Geschäft verlassen wollten.

Dominik sah es natürlich, aber in diesem Moment hätte er gar nichts dagegen einzuwenden gehabt, einfach den Warenschwund zu akzeptieren und zu hofften, dass diese Mädchen beim ersten Anzeichen eines Alarms so schnell die Flucht ergreifen würden, dass er mit gutem Gewissen nicht nachlaufen müsste. Doch unser Herr Rufer von vorher hatte diese verdächtige Ausbeulung in der Bauchgegend eines der Mädchen auch gesehen und, in seinem Bewusstsein als Aufrechterhalter von Recht und Ordnung in unsere so unordentliche Welt, rief laut aus:

„Die wollen da was mitgehen lassen, ich habs genau gesehen, ich habs genau gesehen.“

Dass es kein Diebstahl ist, wenn man sich noch im Geschäft befindet, das hat er halt in seinem Eifer, das Gesetz zu hüten, übersehen. Die jungen Mädchen aber nicht. Sie gingen mit einem derart lautstarken Geschimpfe auf den Herren los, dass er in Sekundenschnelle nicht nur verstummte, sondern sichtbar zusammenschrumpfte und der noch kürzlich so starke Wille, Unrecht zu bekämpfen, vollkommen aus seinem mit jedem Wort mehr ältlich werdenden Gesicht verschwand.

Diese leichte Verwirrung nützten dann eine durchaus gewichtige aber zugleich unglaublich dynamische Frau, die mit einem vollen Einkaufswagen hinter diesem Spektakel stehen realisierte, dass sich hier die Chance auftat, als Erste an der neuen Kassa zu sein, und sich, nach einer Reaktionszeit, die für ein Formel 1 Rennen ausreichen würde, dafür entschied, die linke Kassa zu riskieren. Hinter sich zog sei eine Spur kleine Kinder, dem Lärm nach zu urteilen müssten es mindestens zwölf oder dreizehn sein, genaueres Zählen zeigte dann, dass es nur zwei waren, die eine Spur von Verpackungen, Müll- und Essensresten nach sich zogen, bei deren Anblick sich bei jedem Mitarbeiter der kalte Angst- mit dem heißen Stressschweiß vermischte, denn diesen Blödsinn abkassieren und durchstreiten war eine Aufgabe, bei der auch ein Jesus gesagt hätte, ok, manchmal ist es das einfach nicht wert, da nehm ich das Kreuz zum mitnehmen.

Aber natürlich, natürlich nicht genug, denn in dem Moment, in dem Dominik endlich seinen Advocadokäufer abserviert hatte, in dem endlich Bewegung in seine Schlange kam, hörte er im Hintergrund des Geschäfts den Lärm, der so sicher mit dem Ruf nach einer zweiten Kassa einherging wie Schnee mit April. Das Klirren von zerspringenden Sektflaschen.

Dominik fühlte, wie ihm dieser Klang die Luft aus seiner Brust drückte.

Zerklirrende Sektflaschen mussten aufgeräumt werden. Der Boden musste gereinigt werden. Und das musste halt eine Mitarbeiterin machen. Die dann, und die klügeren unter den Leserinnen werden es schon erahnt haben, nicht zur zweiten Kassa gehen kann.

Schnell ging Dominiks Atem, stoßweise. Seine ganze Energie dafür verwendend, nicht in Panik zu verfallen, zog er Artikel um Artikel über den Scanner, automatisch, während sein Auge über das Gewirr vor ihm strich.

Die beiden jungen Mädchen hatten aufgehört, auf den alten Mann einzuschimpfen, der inzwischen so weit in sich selbst zusammengesunken war, dass er in seinem eigenen Einkaufskorb Platz gehabt hätte. Sie hatten sich einer Gruppe von jungen Burschen angeschlossen, die laut grölend Bierflaschen jonglierten und sich in der Jugendlichen eigenen Sprache miteinander darauf verständigten, gemeinsam eine Nacht zu verbringen, die sie ihr Leben lang bereuen würden. Der Obdachlose vor ihnen konnte sich nun nicht mehr zurückhalten, er war bei den lang erwarteten Flaschen angekommen, und musste, musste einfach einen Schluck von der heiß ersehnten Leibwächterflasche nehmen, was zu noch mehr Empörung in seiner näheren Umgebung führte. Die hinter ihm stehende junge Mutter mit Kinderwagen, die sich bis dahin tapfer bemüht hatte, sich ihren Abscheu vor dem Wohnungslosen nicht anmerken zu lassen, entschied sich, genug gesehen zu haben, ließ ihren Einkaufskorb stehen und drängte sich mit dem Ziel, das Geschäft ohne Kauf zu verlassen, mit ihrem Zögling durch die beiden Schlange durch. Dies nahmen zwei Malergesellen als Aufforderung, sich der Bewegung anzuschließen und ein kleines bisschen vorzudrängen, da sie ja nur ihre Leberkässemmel zu bezahlen hatten, das ist ja wirklich nicht so viel, da kann man einen ja mal vorlassen, was aber von der rechtlichen Kundschaft nun nicht so gerne gesehen wurde. Inmitten all diesem fing nun auch die oben erwähnte Mutter mit ihrem Anhang lautstark zu schimpfen an, denn aus irgendeinem Grund war für sie persönlich nun der Moment gekommen, das Verhalten der Kinder, das sich übrigens absolut nicht verändert hatte, nicht weiter zu gutieren und aggressive, ans illegale grenzende, Pädagogik zu betreiben.

Dominik zog weiter Artikel über den Scanner, im Wissen, dass dieser unglaubliche Lärm, dieses Chaos, diese Aggression erst der Anfang war. Hilfe würde nicht kommen, nicht in den nächsten Minuten, die zweite Kassa würde geschlossen bleiben. Und früher oder später würden sie es realisieren, diese geifernde, anarchische Masse, in ihrem Verlangen nach sofortiger Wunscherfüllung, in ihrer Gier nach grenzenlosem Konsum. Sie würden realisieren, dass sie belogen worden waren, dass es keine zweite Kassa geben würden. Und sie würden sich auf den einzigen stürzen, dem sie dafür verantwortlich machen können. Auf Dominik.

Kürzer wurde sein Atem, flacher. Schneller, schneller zog er mit zittrigen Händen Artikel um Artikel über den Scanner, von einem endlosen Band, das sich automatisch und ewig drehte, Artikel um Artikel vor ihn brachte, und egal, wie schnell er war, egal wie schnell er zog, der nächste war schon da, der nächste, egal wie schnell er war, er musste schneller sein, schneller, und er spürte wie die Unruhe zunahm, wie die Erkenntnis, dass die zweite Kasse nicht besetzt werden würde, sich langsam in der Masse verbreitete, wie die Stimmen lauter und lauter wurden, sich entfernten von allem was Menschlich war und anschwollen zu einem harpyiesken Kreischen nach Konsum, Konsum, sofort, und gleich, und sofort, und wir und Konsum….

Und Stille.

Und Stille.

Dominik atmete.

Ein Atemzug. Tief. Von den Schuhen über die Beine, durch den Bauch aus der Brust.

Und Stille.

Dominik zog keinen Artikel mehr über den Scanner. Er hob seinen Kopf. Sah sich um. Sah die wütende, schreiende Masse vor sich. Aber er hörte sie nicht. Als wäre eine Glaswand zwischen ihnen. Als wäre er in einer Ausstellung.

Die Ausstellung der kleinsten und schlechtesten Menschen.

Dominik stand außen. Er konnte sie sich anschauen. Und wenn es ihn nicht mehr interessierte, dann konnte er gehen. Er atmete langsam und tief durch, ließ noch einmal seinen Blick schweifen. Es interessierte ihn nicht mehr.

Dominik erhob sich.

Streifte seine Weste ab.

Schloss die Kassa.

Dominik ging.

Langsam ließ er die zornig tanzende Masse hinter sich, mit ihrem Geifern und Gieren, ihrer Empörung und ihrem Unverständnis. Die Glaswand begleitete ihn, schirmte ihn ab, ließ ihn nur seine Schritte hören. Erst als sich die Türen vor ihn öffneten, er die Stadt vor sich sah, hörte er wieder. Ganz leise nur, in weiter Entfernung, aber dafür umso klarer. Vögel, Wind. Das Rauschen von Blättern. Wasser. Leben.

Ohne Eile ging er, Schritt für Schritt, über die Straße, vorbei an Autos, die vielleicht wild hupten, vielleicht auch nicht, er hörte es nicht. Er sah nur die aufgebracht gestikulierenden Fahrer, jeder in seiner eigenen Blechkiste schwitzend und schimpfend. Sie wirkten auf ihn wie aufgebrachte Wespen, die man im Sommer trifft. Man sieht sie sich an, denkt sich, na Wahnsinn, wie wild. Und geht weiter.

Dominik ging weiter.

Um ihn herum, seine Glaswand. Alles hielt sie draußen, den Gestank, den Lärm, die Härte des  Betons und die Kahlheit der Mauern. Sie ließ ihn nur nach vorne hören, die Vögel, die Blätter, das Wasser, der Wind.

An leerstehenden Kapitalanlagen ging er vorbei, an vollgestopften, halbverfallenen Mietburgen, Bauten aus Beton und Eisen. An Autos um Autos, welche keuchend vor den roten Ampeln standen und röhrend ihren Hass auf die Natur in die Welt hinaus brüllten. An abgehetzten Menschen, die so schnell laufen mussten, damit ihnen die Hässlichkeit ihrer Welt nicht bewusst werden konnte.

Alles ließ er hinter sich.

Schritt für Schritt.

Ich glaube, er hatte sogar die Augen geschlossen. Ich kann es nicht genau sagen, aber ich bin mir relativ sicher. Denn erst, als er weit genug gegangen war, erst als er die Stadt, die Straßen, den Asphalt und den Beton, das ganze Geld und den ganzen Stress hinter sich gelassen hatte, erst als er zwischen Bäumen stand, erst als er das Wasser der Donau mit seinen Zehen spüren konnte, öffnete er seine Augen wieder. Und mit diesem Öffnen der Augen senkte sich auch seine Glaswand. Er brauchte sie nicht mehr.

Er war angekommen.

Er sah die Sonne, das Wasser glitzernd im Licht, die Wellen im endlosen Tanz. Das Grün der Blätter, ihren Schatten am Boden. Das Braun der Erde, die unendlichen Farben der Steine. Er roch ihn, den Duft nach Leben, nach Erde, nach Wachstum und Natur. Jede Blüte und jeder Grashalm, jedes Blatt und jeder Tropfen Wasser hatte eine eigene Identität, in der sie Wachstum, Leben ausdrückten, ein gemeinsames, ein vollkommenes Ganzes ausdrückten.

Und nun, nun hörte er endlich klar. Das Rauschen des Windes in den Blättern, das Plätschern des Wassers, das Rascheln des Grases unter seinen Füßen, die Bienen und Hummeln und Mücken, ein kleines Eichhörnchen, das irgendwo auf einen Baum kletterte.

Dominik fühlte.

Er war da.

Da, wo er als Mensch sein sollte.




Fabian Wakolbinger

Soziologe und Sozialarbeiter

Daraus gelernt, dass die Betrachtung der Gesellschaft von den Seiten fruchtbarer sein kann als von oben.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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