Erika und Herbert – oder: Geht so Frieden?

Bettina Engel-Wehner für #kkl19 „aufrichten“




Erika und Herbert – oder: Geht so Frieden?

Unaufhörlich hämmernde Klöppelschläge. Herbert griff mit einer Hand dorthin, wo er seine Stirn vermutete, die andere fand, einem Urinstinkt folgend, zielsicher den Sensor und brachte den gnadenlos tobenden Wecker zum Verstummen.

Geräusche von klapperndem Geschirr drangen aus der Küche und waren wie Trommelwirbel für seinen Schädel. Herbert verzog das Gesicht. Sein Mund war trocken. Die Zunge klebte geschwollen am Gaumen. In seinen Augenhöhlen ankerten zwei schwere Druckknöpfe.

„Geht das nicht leiser? Mir platzt gleich die Birne!“, schnaubte er.

Erika kam, kaum hatte sie die Stimme ihres Liebsten vernommen, mit einer Tasse Kaffee ans Bett.

„Du Ärmster! War ja wieder eine sehr lange Schicht gestern“, frotzelte sie und strich ihm zärtlich über sein schon schütteres Haar. Sie presste ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Eine säuerliche Bierfahne schlug ihr entgegen.

Herbert rollte sich mürrisch auf die andere Seite. Ihr fürsorgliches Wesen ging ihm heute Morgen sichtlich auf die Nerven. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen: „Lege dich doch lieber noch ein bisschen zu mir, Eri.“

„Das geht nicht, Schatzilein, kicherte sie, „es ist schon kurz vor elf und ich muss gleich aus dem Haus.“

In diesem Moment läutete es Sturm.

„Wer ist das denn – die Feuerwehr?“ Herbert ächzte.

„Das wird der Postbote sein, der ein Paket für die Nachbarn abgeben will“, flötete Erika und hastete gut gelaunt davon. „Ja, wie? Kommt der neuerdings in aller Herrgottsfrühe? Kannst ihm gleich ausrichten, dass wir nicht Postverteilstelle fürs ganze Viertel sind.“ Herbert rollte sich auf die andere Seite.

Durch das offene Fenster hörte man die dumpfen Geräusche eines aufschlagenden Balls.

„Und was ist jetzt wieder los? Das ist ja hier wie auf dem Rummelplatz!“

Herbert begann innerlich zu kochen.

„Das ist der kleine Simon von gegenüber. Seine Mutter kommt immer erst gegen zwölf nach Hause.“ Erika versuchte ihre neueste Errungenschaft zu besänftigen, sie spürte seine Gereiztheit.

„Wie? Was!? Soll ich mir etwa noch bis 12 Uhr diese Tyrannei gefallen lassen?“ Herbert bäumte sich auf. In dieser Sekunde begann Erikas Telefon zu trällern:

„… what a difference a day made …“. Sie flitzte sofort los.

Er hörte, wie sie kicherte und eine amüsierte Unterhaltung mit einer ihrer zahllosen Freundinnen führte. Im Hof ging indes das Ballspiel unaufhörlich weiter.

Das war zu viel! Das monotone Dotzen und das Geschnatter seiner Freundin waren die reinste Folter. Herbert sprang aus dem Bett, raffte seine Hose und stieg, nachdem sich sein Brummschädel an die neue Position gewöhnt hatte, in Windeseile hinein. Barfuß stürzte er aus dem Zimmer, keine Zeit darauf verwendend, den Gürtel seiner Hose zu schließen.

Erika riss die Augen auf: „Was ist passiert, wo willst du in diesem Aufzug hin?“

„Dem Theater hier mache ich ein Ende!“ Herbert warf ihr einen bösen Blick zu. Im Flur stolperte er laut fluchend über ein Paar Schuhe und riss die Haustür auf:

„Hier ist Ballspielen verboten, du kleiner Rotzlöffel!! Mach den Krach doch bei euch zu Hause. Wenn deine Mutter keine Zeit für dich hat, muss sie dich eben in ein Heim stecken!“

Mit diesen Worten entriss er dem entsetzten Kind den Ball und stürzte damit wie eine wild gewordene Tarantel an Erika vorbei in die Küche.

Unbeirrt schnappte sich Herbert die Schere vom Wandhaken und stach rasend von Sinnen auf den wehrlosen, roten Kinderball ein. Dann riss er das Fenster auf und schleuderte das nun flache Teil im hohen Bogen hinaus, wo es leblos vor Simons Füßen landete.

„Das kannst du doch nicht machen! Was sollen denn jetzt die Nachbarn von uns denken? Wenn das jemand gesehen hat!“, stammelte sie entsetzt.

Simon rannte, so schnell er konnte, mit lautem Geheule vom Hof.

„Das wird ihm eine Lehre sein!“ Herbert ließ sich zufrieden schnaufend auf die Küchenbank sinken. Jetzt ging es ihm besser – endlich war Frieden! Auch seine Kopfschmerzen waren mit einem Mal wie weggeflogen.

Er hörte wie Erika nebenan leise vor sich hin jammerte. „Jetzt ist aber Schluss!“

Kurze Zeit später zog sie wortlos die Wohnungstür hinter sich zu.

Die Sonnenstrahlen blitzten Erika ins Gesicht als sie aus der Haustür trat. Sie setzte ihre schicke Sonnenbrille auf, die ihr Herbert erst kürzlich geschenkt hatte, und schaute sich verstohlen um. Sie hoffte, dass die Nachbarn von dem schrecklichen Zirkus nichts mitbekommen hatten. Doch alles war ruhig – keiner schien etwas bemerkt zu haben!

Erika atmete durch. Sie ließ noch kurz die angenehme Wärme auf ihrer Haut wirken, warf ihren Sommermantel behände über die Schultern und schlenderte leichtfüßig in Richtung einer kleinen roten Fläche im Hof. Sie bückte sich flink und ließ

den traurigen Rest des einst so schönen Kinderballs in ihrer Tasche verschwinden.

Sie richtete sich auf, schob ihre stattliche Brust nach vorne und streckte den Nacken. Mit kurzen, kräftigen Schritten verließ sie erleichtert den Hof.




Grafik: twohundred.de



Wie ein Baum


Fühle mich wie ein Baum

der Angst hat

zu  wachsen

weil er kein Vertrauen  in seine Wurzeln hat.


Gibt es solche Bäume?


Sei der Baum

der mutig seine Äste in den Himmel streckt.


Berühre das Universum mit deinen Träumen.




Grashalme


Ihr

Seid

So stark


In euren Wurzeln.


Gebt jedem

Luftzug nach.


Winkt

Stets

Dem Leben zu.


Verliert selbst

Im wilden Sturm

Nicht


Eure innere Ruh.




Grafiik: twohundred.de



Bettina Engel-Wehner [„JE“, Ps.]

2011 entdeckte ich meine Freude am Schreiben. Ermutigt durch meine Freundschaft mit dem (leider inzwischen verstorbenen) Schriftsteller Theo Fischer, habe ich 2013 begonnen, Gedichte, Haiku, Fabeln, Aphorismen und Kurzgeschichten, z.T. auch unter dem Pseudonym „JE“, zu veröffentlichen.

Bisher erschienen sind u.a. ein Gedichtband  „Je  Band 1 | Gedichte“ (ISBN 978-3-00-042775-6), seither weitere Veröffentlichungen in diversen Anthologien und Lyrik-Magazinen. www.je-gedichte.de

Interview mit Bettina Engel-Wehner HIER






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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