Hanna Geisemeyer für #kkl20 „bedingungslos“
„Was ist das für ein Stern?“, fragt Frau Gramm. Das fragt sie neuerdings immer wieder. Als gäbe es ansonsten nichts mehr, was sie mit ihren fünfundneunzig Jahren noch nicht wüsste, nur diese eine Sache, die fehlt ihr noch. Was ist das für ein Stern?
Obwohl sie beinahe alles vergisst, meinen Namen, den Namen der Pfleger, wo ihre Schwester hingeht, wenn die mal für dreißig Minuten das Zimmer verlässt, um etwas zu essen oder aufs Klo zu gehen. Diese Frage vergisst sie nicht. Beim dritten oder vierten Mal, ich weiß es nicht genau, hole ich mein Handy aus der Tasche, und suche nach so einer App, die einem den Namen von Sternen verrät.
„Das könnte Arktur sein“, sage ich. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Könnte aber sein.“
„Arktur“, murmelt sie, so leise, dass ich es fast nicht verstehe. Sie wird es sowieso in ungefähr fünf Minuten vergessen haben, denke ich.
Den einzigen Namen, den Frau Gramm nicht vergisst, ist der ihrer Schwester. Frau Brömer ist vor zwei Jahren bei ihr eingezogen, in diese dunkle, übel riechende, viel zu kleine Wohnung, Seit zwei Jahren wäscht sie ihre Schwester, wenn die nachts ins Bett pinkelt, füttert sie, weil sie nicht mehr selbst die Gabel halten kann und sowieso das Essen und Trinken wahrscheinlich einfach vergessen würde. Sie beruhigt Frau Gramm, wenn die Angst bekommt, weil von der Baustelle gegenüber manchmal plötzlich sehr laute Geräusche die Stille in der Wohnung durchbrechen. Still ist es meistens, abgesehen von dem monotonen Geräusch zerreißenden Papiers, weil Frau Brömer Frau Gramm dafür immer eine Zeitung in die Hand drückt, „das beruhigt sie“, sagt sie. Und: „Sie ist so ne Süße.“
Frau Brömer ist zweiundneunzig Jahre alt; sie ist die kleine Schwester. Sie geht gebückt. Durch ihre schwarzen, strähnigen Haare sieht man an vielen Stellen die Kopfhaut schimmern.
„Es ist nicht leicht“, sagt sie, und weint ein bisschen, wenn man sie nach ihrer Schwester fragt, „ich müsste mal eine neue Hose kaufen, aber ich komme hier ja nicht raus.“ Dann zuckt sie mit den Schultern, Naja, so ist das jetzt eben mit ihrem Leben.
Mich ruft sie nur manchmal, dann, wenn sie etwas nicht alleine schafft, und die Pflege, die drei Mal am Tag kommt, gerade nicht da ist. Einmal habe ich gefragt, was sich jeder hier fragt. Warum sie das macht, ob sie nicht einen Platz im Heim suchen will, da könnte sich jemand anders kümmern, und sie könnte mal wieder raus, Hosen kaufen gehen, oder einfach durchatmen. Aber Frau Gramm isst und trinkt nur, wenn Frau Brömer bei ihr ist. Wenn es anders wäre, würde sie einfach sterben.
„Sie hat mir mal beigestanden, als es Spitz auf Kopf stand, damals, nach dem Krieg.“
Und damit ist die Sache für Frau Brömer klar, ohne Wenn und Aber.
Alle warten darauf, dass Frau Gramm stirbt.
Alle denken, das wäre bestimmt eine riesen Erleichterung für Frau Brömer.
Frau Gramm stirbt an einem Montag.
Frau Brömer ruft mich an einem Mittwoch an, zwei Tage später.
Ob ich ihr ein Radio kaufen könne. Sie erträgt die Stille nicht.
„Ich könnte schreien“, sagt sie.
Hanna Geisemeyer, Jahrgang 1985, arbeitet als Apothekerin und hat nebenberuflich Fachjournalismus studiert. Sie lebt im Südschwarzwald.
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